Sehen, was möglich ist.

Joost Meyer trainiert im Ambulanticum für ein selbstständiges Leben

Joost Meyer war auf dem Weg zu einer Freundin, um an der Disposition für seine Promotion zu arbeiten, als sich sein Leben von einer Sekunde auf die nächste veränderte: Bei einem Auffahrunfall auf der Autobahn wurde er schwer verletzt, sein erster Lendenwirbel brach, das Rückenmark wurde zerstört. Das war im Januar 2020. Seitdem ist der 45-Jährige von der Hüfte abwärts gelähmt. Diagnose: komplette schlaffe Paraplegie, Querschnittslähmung. Nach der OP war er vier Monate zur Erstmobilisation im Krankenhaus. Rund ein Jahr später kam Joost Meyer zum ersten Mal ins Ambulanticum. Dort trainiert er regelmäßig für mehr Selbstständigkeit und Unabhängigkeit im Alltag.

Gemeinsam Ziele setzen und erreichen

Den Weg ins Ambulanticum fand Joost Meyer über seinen Rehaberater. „Der hat mir direkt gesagt: Das passt zu dir. Geh´ dahin´“, erinnert sich der Bildhauer und Wissenschaftler. Er folgte dem Rat, vereinbarte ein Vorgespräch und war sofort überzeugt. „Ich fand das Konzept im Ambulanticum von Anfang an sehr, sehr cool.“ Im Mai 2021 begann seine erste Intensivtherapie in der Herdecker Einrichtung, im September dieses Jahres war er bereits zur dritten Therapiephase da. „Für mich ist es Luxus, dass ich hierhin kommen kann“, so der Aachener. „Es gibt einen Therapieplan, der individuell für mich erarbeitet wird. Die Therapeutinnen und Therapeuten besprechen mit mir, was meine Ziele sind. Und gemeinsam denken wir darüber nach, wie wir diese erreichen können.“

 

Körpergefühl und Koordination verbessern

Und diese Ziele verändern sich von Therapie zu Therapie. Sind erste „Meilensteine“ erreicht, werden neue gesetzt. „Meine Ziele sind quasi mitgewachsen“, bestätigt der Ambulanticum-Patient. Noch vor einem Jahr war es für ihn eine Herausforderung, auf der Bettkante zu sitzen und ein T-Shirt anzuziehen, ohne nach vorne zu kippen. „Das ist heute kein Problem mehr. Darüber denke ich gar nicht mehr nach“, so Meyer.

Sein Körpergefühl und seine Koordination haben sich verbessert, die Rumpfmuskulatur ist stärker geworden – ob beim Training im Spacecurl, durch Einheiten am Reitsimulator oder Übungen auf dem Lokomat®Pro, bei denen er während der aufrechten Gangbewegungen seine „Muskulatur wiederentdecken kann“, wie er es nennt. „Ich fühle mich insgesamt fitter und bin viel sicherer geworden.“ Treppen, hohe Bürgersteige oder andere Hindernisse, die Rollstuhlfahrern in ihrem Alltag immer wieder begegnen, machen ihm kein Kopfzerbrechen mehr. „Ich weiß: Wenn ich muss, komme ich da hoch. Wenn es darauf ankommt, geht das. Und das gibt mir eine unglaubliche Sicherheit.“

 

Kanufahren mit Querschnitt

Mittlerweile spielt Joost Meyer in seiner Freizeit Rollstuhl-Handball, trainiert einmal in der Woche und nimmt an Turnieren teil. „Dabei war es für mich ein Horrorerlebnis, als ich im Krankenhaus kurz nach dem Unfall eine Gruppe gesehen habe, die im Rollstuhl Ballsport gemacht hat. Ich habe nur gedacht: Und da gehörst du jetzt zu“, erinnert er sich an die schwierige Zeit nach dem Unfall. Dass Joost Meyer nicht aufgegeben und das Leben nach dem Unfall angenommen hat, liegt auch an seinen zwölf und 15 Jahre alten Töchtern. „Sie waren und sind mein Antrieb“, sagt er. Mit den Mädchen gemeinsam zelten und Kanufahren – das soll auch weiterhin möglich sein. „Ich setze mir Ziele mit und über die Kinder – und dann ziehe ich das durch.“

So trainierte er auch während der Therapie im Ambulanticum für einen Kanuausflug. „Für die Rumpfmuskulatur ist das eine totale Belastung“, weiß Joost Meyer, der mit seinen Therapeut:innen gezielt Muskeln für die Tour auf dem Wasser aufbaute, seine Koordination weiter schulte und viele Trockenübungen machte, bevor er es zur Praxiseinheit auf den nahegelegenen Hengsteysee ging.

Perspektivwechsel

„Und es hat alles super geklappt“, freut sich Joost Meyer darüber, wieder etwas geschafft zu haben, was nach seinem Unfall zunächst unerreichbar schien. Zu sehen, was möglich ist – das war auch schon vor dem Unfall eine Eigenschaft des 45-Jährigen. „Das ist eine Stärke von mir, zu versuchen, das Beste daraus zu machen“, erklärt er. Natürlich sei das mit einem Querschnitt erst einmal extrem. Extrem schwierig. „Aber ich habe eine Neugierde empfunden, was gehen kann.“ Durch den Unfall habe sich seine Perspektive geändert – im positiven Sinn. Selbst wenn viele Dinge anders und manche verloren seien. „Es ist viel hinzugekommen. Vor allem eine neue Wertschätzung für das Leben“, sagt Joost Meyer voller Überzeugung und fügt mit einem Lächeln hinzu: „Ich weiß, das klingt sehr groß. Aber genauso ist es.“



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