Linus‘ Weg

Schädelhirntrauma – Eine Diagnose, die unser Leben völlig veränderte.

Der Unfall geschah im Januar 2017 im fernen Australien, ein Autounfall. Linus saß auf der Beifahrerseite als ein großer Pickup den Kleinwagen unseres Sohnes frontal erwischte! Man hatte Linus mit dem Rettungshubschrauber ins Canberra Hospital geflogen. Die Chancen unseres 19-jährigen Sohnes standen sehr schlecht. Die Zeit zwischen der Benachrichtigung, dem 32-stündigen Flug von Deutschland nach Australien und schließlich der Ankunft im Krankenhaus erscheint uns heute wie ein schlimmer Alptraum. Wir wussten nichts Konkretes, bekamen nur den Hinweis: „Beeilen Sie sich!“

Äußerlich sah Linus nicht sehr schlimm aus, bis auf einige kleinere Verletzungen. Aber Grund zur Besorgnis machte das schwere Schädelhirntrauma. Deshalb lag er im künstlichen Koma, wurde beatmet und war mit vielen Schläuchen und Kabeln versehen. Nach sechs Tagen wurde ein MRT von seinem Kopf gemacht. Das Ergebnis wurde uns in einer großen Ärzterunde mitgeteilt: Unser Sohn hatte ein schweres diffus-axionales Schädelhirntrauma erlitten. Der Kopf wurde bei dem Aufprall des Autos in mehrere Richtungen geschleudert, was viele Verletzungen in nahezu allen Bereichen des Gehirns zur Folge hatte, vor allem aber im Bereich des Hirnstamms, des Frontallappens und des Kleinhirns. Eine genaue Prognose wollte uns keiner der Ärzte geben. Sie befürchteten aber, dass Linus nie wieder aus seinem komatösen Zustand erwachen würde. Ein Pflegefall auf Lebenszeit! Aus diesem Grund rieten sie uns, die lebenserhaltenden Geräte abschalten zu lassen.

Für uns brach eine Welt zusammen, wir standen unter Schock. Aber zugleich entstand eine Art Trotz, der sich nur entwickeln konnte, weil wir als Laien das gesamte Ausmaß der Verletzung gar nicht richtig verstanden haben bzw. verstehen wollten. Wir entschieden uns, Linus eine Chance zu geben.  Wir wollten um unseren Sohn kämpfen und begannen alle Informationen zum Thema Schädelhirntrauma zu lesen, die wir bekommen konnten.

Währenddessen wurde Linus von Krämpfen geschüttelt, seine Körpertemperatur stieg ungebremst, da er sie nicht mehr regeln konnte, eine Lungenentzündung schwächte ihn zusätzlich. Ständig piepten die  Geräte, wenn die Vitalwerte wieder entgleisten. Die Intensivpfleger/innen leisteten großartige Arbeit. Sie waren es auch, die uns ermunterten ihn mit Eiswasser zu kühlen, mit ihm zu sprechen, zu singen, ihn zu streicheln und ihm Sprachnachrichten von Freunden und Verwandten aus Deutschland vorzuspielen. Wir spielten ihm seine Lieblingsmusik vor und bewegten seine Gelenke in ruhigen Phasen. Wir waren nahezu rund um die Uhr bei ihm.

Nach drei Wochen fing Linus an vorsichtig alleine zu atmen, die Krämpfe wurden etwas weniger und er wurde von der Intensivstation auf die Beatmungsstation verlegt. Seine Augen begannen sich teilweise zu öffnen und er zuckte bei Schmerz. Die Ärzte waren sehr zufrieden und schöpften anscheinend selber etwas Hoffnung. Er befand sich jetzt im Wachkoma.

Es dauerte sechs Wochen bis Linus soweit außer Gefahr war, dass er mit einem Ambulanzflugzeug nach Deutschland transportiert werden konnte. In Singapur mussten wir allerdings mit Linus in eine Linienmaschine umsteigen, die uns bis Frankfurt brachte. In das Flugzeug hatte man extra für ihn eine Intensivstation eingebaut, die von zwei Ärzten betreut wurde. Zuletzt ging es im Krankenwagen über die Autobahn nach Hamburg.

In Deutschland kam er in ein Krankenhaus mit Traumastation und Früh-Reha. Linus Zustand besserte sich stetig, er atmete nun ohne Hilfe, fixierte für kurze Zeit mit den Augen und reagierte auf Stimmen. Wenn wir seine linke Hand berührten, griff er zu. Auch seine Vitalwerte normalisierten sich langsam. Die Früh-Reha begann ungefähr zwei Monate nach seinem Unfall, er wurde trotz Dämmerzustand auf die Bettkante gesetzt und sogar mit drei Therapeuten hingestellt. Um eigene Bewegungen zu initiieren und zu fördern, wurde Bodenlagerung angeordnet. Er verbrachte ab jetzt den ganzen Tag auf einer großen Matte am Boden. Der Logopäde zeigte uns, wie man mit Eisstäbchen die Gesichtsmuskulatur aktivieren kann und die Ergotherapeuten dehnten seine verkrampfte Hand und Fuß und begannen mit einer tiergestützten Therapie. Wir durften oft dabei sein und schauten uns vieles ab, was wir dann in der freien Zeit ebenfalls mit Linus machten.

Wir verbrachten noch immer täglich viele Stunden bei ihm, ebenso seine Schwester. In dieser Zeit kamen auch Großeltern, Onkel, Tanten und Freunde zu Besuch. Alle unsere Bemühungen und Therapien zeigten Wirkung, er reagierte immer mehr auf uns, antwortete nach gut fünf Monaten mit dem Daumen und später auch mit Nicken, konnte immer besser seinen Kopf halten und begann sich mit einem Kamm über den Kopf zu streichen. Er fing an Farbkarten zu sortieren und mit einem Löffel seine Breikost zu essen. Das Trinken bereitete noch Mühe, wobei ein Schnabelbecher mit Strohhalm half.

Nach gut sechs Monaten begann Linus Worte zu formen und mit Tönen zu füllen. Seine Trachealkanüle und PEG (Magensonde) wurden schließlich entfernt und Linus fing an, seinen Rollstuhl mit einer Hand und mit den Füßen trippelnd zu bewegen. Ende August, nach insgesamt acht Monaten Krankenhausaufenthalt, wechselte Linus in eine Rehaklinik. Er befand sich nun in der Phase B der Reha und es standen täglich Therapien, wie Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie, Kunst-,  Musik- sowie Schwimmtherapie an. Genau wie zuletzt im Krankenhaus verbrachte er einmal pro Woche eine Stunde mit einem Neuropsychologen. Denn zu seinen motorischen Beeinträchtigungen kamen noch diverse kognitive, wie z.B. Schwierigkeiten sich zu konzentrieren, zu erinnern, zu orientieren, zu planen, Zusammenhänge zu erkennen und vieles mehr.

Anfangs tat sich Linus noch sehr schwer mit der Dauer der Therapien. Nach zehn Minuten verließen ihn Lust und Kraft, er hatte eine starke Antriebsschwäche, so dass wir oder die Pflegerinnen ihn oft aus dem Bett werfen mussten. Zu dieser Zeit zeigte sich leider auch die beginnende Spastik in der rechten Seite. Der Fuß hatte eine ausgeprägte Spitzfußstellung und der rechte Arm und die Hand nahmen eine gebeugte Pfötchenhaltung ein. Zusätzlich zu den Therapeuten dehnten und massierten wir die Seite und Linus bekam eine Hand- und Unterschenkelorthese. Linksseitig zeigte sich gleichzeitig eine weitere Beeinträchtigung. Durch einen Schaden im Kleinhirn wurde eine Ataxie immer stärker. Dies zeigte sich durch überschießende, oft dem Zittern ähnliche Bewegungen, die ein zielgenaues Essen und Trinken verhindern sowie insgesamt die Feinmotorik stören.

In der Rehaklinik erlernte er mühsam das einhändige Anziehen, sich in seiner Umgebung zu orientieren und alleine den Tagesplan einzuhalten. Eine Dysarthrie ließ ihn sehr leise und nuschelig sprechen, aber er wiederholte unermüdlich was er zu sagen hatte. Er lernte einarmig zu schwimmen und zu tauchen, er machte ein Mobilitätstraining mit dem Einhandrollstuhl, trainierte ausdauernd mit seiner rechten Hand gegen die Spastik und mit seiner linken Hand gegen die Ataxie. Nach knapp 18 Monaten erlaubten sein Kreislauf und seine Köperspannung das Training im Lokomaten, nachdem er monatelang im Stehtrainer stand. Sein Ziel war und ist es, wieder sicher frei gehen zu lernen. Heute ist das Ziel zum Greifen nahe gekommen.

Die ersten Schritte am Rollator mit gut 10kg Gewicht im Korb zum Stabilisieren folgten in relativ kurzer Zeit, doch der Spitzfuß verhinderte noch immer ein Gehen ohne zu humpeln. Gerade in der Neurologie ist es aber wichtig, alte Muster wieder zum Leben zu erwecken und daher schlugen die Ärzte vor, operativ eine Achillessehnenverlängerung bei ihm vorzunehmen. Im August 2018 war es soweit, im Krankenhaus wurde die Sehne um ganze 4cm verlängert. Es folgten sechs Wochen Gips, wieder nur Rollstuhl. Die Nerven aller Beteiligten lagen inzwischen blank. Linus hatte nun schon mehr als ein Jahr in der Rehaklinik verbracht und es wurde Zeit für Veränderungen. Noch einmal erhielt er die Möglichkeit am Lokomaten zu üben, die Schmerzen wurden weniger, die Schwellung nahm ab und langsam bekam er wieder Stabilität. Linus verließ die Rehaklinik kurz vor Weihnachten 2018 – knapp zwei Jahre nach dem Unfall – auf eigenen Füßen, was uns und vor allem ihn sehr stolz machte. Bis dahin verbrachten wir jede freie Minute bei ihm in der Klinik, trainierten, übten, spielten Kartenspiele für die Hirnleistung und machten ihm Mut. Die Wochenenden verbrachte er ohnehin schon seit einem halben Jahr zu Hause.

Wir wohnen in einem Haus mit Treppe zu den Schlafzimmern, also wurde eine Treppensteighilfe (Assistep) eingebaut. Ein Bügel, der in einer Schiene verläuft, und mit dem er alleine die Treppe gehen kann. Das Bad wurde entsprechend umgebaut und an vielen Wänden sind Haltegriffe angebaut. Dies alles verhalf ihm zu einer größtmöglichen Selbstständigkeit.

Sein Alltag zu Hause war von uns schon vorbereitet, er erhält täglich Logopädie sowie Ergo- und Physiotherapie in einem nahen Therapiezentrum und auch ein Neuropsychologe kommt ins Haus. Am Nachmittag sorgen persönliche Assistenten für die nötige Unterstützung und auch für weitere Förderung bei der Wiedereingliederung ins tägliche Leben. Am Wochenende wurde regelmäßig mit uns im Schwimmbad trainiert: im Wasser gehen, tauchen und schwimmen.

Trotz all der Zeit, die wir mit Linus verbringen und uns um ihn kümmern, haben wir unsere Arbeit wenige Wochen nach dem Unfall wieder aufgenommen. Wir halten es für sehr wichtig auch das eigene Leben nicht aus den Augen zu verlieren und im Beruf den nötigen Ausgleich zu finden. Wobei der Umfang der Arbeitszeit weniger eine Rolle spielt.

 

Schon vor der Entlassung aus der Rehaklinik hatten wir Linus im Ambulanticum vorgestellt. Wir recherchierten lange, was unserem Sohn noch weiterhelfen könne und stießen dabei auf die Intensivtherapie in Herdecke. Es war genau das Richtige. Linus wollte auf keinen Fall mehr irgendwo stationär therapiert werden, aber vier Wochen ambulant mit 5-6 Stunden Therapie pro Tag, darauf freute er sich sehr.

Die drei Monate bis dahin machte er weitere Fortschritte, er saß nun sicher ohne Armlehnen auf einem Stuhl, konnte ein Glas ohne Deckel mit Strohhalm benutzen und sprach schon etwas lauter.

Zu Beginn der ersten Intensivtherapie im Ambulanticum konnte er nur etwa 100 Meter mit dem Rollator gehen, das Umsetzen aus dem Rollstuhl war noch sehr wackelig, man verstand nur schwer seine nuscheligen Worte und sein Schlafrhythmus war noch immer so gestört, dass er gerne um drei Uhr nachts aufwachte und nach seinem Frühstück verlangte. Das ganze Team im Ambulanticum war unglaublich freundlich und kompetent, sie förderten und bestärkten Linus und freuten sich mit ihm über seine Leistungen. Am Ende der vier Wochen war er in der Lage nur mit einem Wanderstock frei mehrere 100 Meter zu gehen, er hatte eine verbesserte Rumpfstabilität, konnte seine linke Hand trotz Ataxie viel sicherer einsetzen und seine rechte Hand nahm er trotz Spastik häufiger wahr und versuchte sie zu benutzen. Der größte Erfolg aber lag in seiner Psyche, er blickte wieder positiver in die Zukunft, hatte wieder Pläne. Auch wenn einige dieser Pläne vielleicht nicht umsetzbar sein werden, wer weiß das schon …

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Wir trauten uns kurze Zeit später im Mai mit Linus in den Urlaub in die Sonne zu fliegen, er sollte  mal eine Woche abschalten, im Meer baden, am Strand rumliegen, Spaß haben. Es war eine sehr große Herausforderung für ihn. Er war wieder unter Menschen, überall gab es etwas zu sehen, am Strand gehen, im Meer baden. Es hat uns allen gut getan

Das Programm im Ambulanticum sieht vor, dass Patienten wie Linus nach zehn Wochen weitere vier Wochen zur Intensivreha kommen. Er freute sich schon und verkündete wieder hohe Ziele. Er wollte Gemüse schneiden üben, das Laufen weiter verbessern, Treppensteigen ohne Hilfe und vieles mehr. Und tatsächlich wurde sein Training so umgestellt, dass er nun nicht mehr im Lokomaten laufen brauchte. Er verbrachte viel Zeit auf dem C-Mill (Laufband mit visuellen Reizen) und zu unserer Überraschung ging die Therapeutin mit ihm an die Kletterwand. Es ging anfangs noch unglaublich langsam aufwärts, nur ca. 4 Meter in einer Stunde. Aber wir selbst hätten niemals gewagt, so etwas mit ihm zu versuchen, obwohl wir mit der Familie schon oft auf Korsika und in Kroatien am Fels geklettert sind. Neben all den modernen Geräten, den tollen Therapeuten, dem Biofeedback und der Robotik, sind genau diese Anregungen so bemerkenswert. Dort kann niemand Wunder vollbringen, aber sie leiten die Patienten dazu an diese Wunder selber zu vollbringen.

An dieser Stelle möchten wir uns bei allen TherapeutInnen, PflegerInnen und ÄrztInnen bedanken, sie alle leisten eine großartige Arbeit. Auch unsere Familie, Freunde und völlig Fremde haben uns geholfen in größter Not. Wir werden euch und sie nie vergessen!

Nach dieser Reha starteten wir unser nächstes Experiment, wir wollten mit Linus zum Kanufahren auf die Loire in Frankreich. Der Fluss war uns gut bekannt, da wir mehrere Jahre in Frankreich gelebt hatten. Wir waren im Sommerurlaub fast immer mit dem Kanu unterwegs, mit unserem Zelt im Gepäck um genau da zu bleiben, wo es schön ist. Wir sind also mit Linus losgepaddelt, haben abends unser Zelt aufgebaut, gegessen wurde auf Campingstühlen und geschlafen auf der Isomatte. Linus half uns beim Auspacken, saß auf wackeligen Stühlen oder stundenlang im schaukelnden Boot, seine rechte Hand wurde ans Paddel gebunden, so dass er zeitweise mitpaddeln konnte. Wir hatten ein SUP (aufblasbares Surfboard) mitgenommen, auf dem er paddeln und plantschen konnte, in Pausen saß er im Schneidersitz auf dem Boden und die Abende genossen wir am Lagerfeuer. Linus blühte auf und zeigte kaum Erschöpfung. Zurück aus dem Sommerurlaub informierten wir uns über Fahrräder, genauer über Trikes, da Linus ein solches in Herdecke beim Fahrradverleih gefahren war. Wir entschieden uns für das Kettwiesel von Haase Bikes. Es hat hinten zwei Räder, ist leicht, wendig und fährt sich sportlich. Ab da erledigten wir Einkäufe, Spaziergänge mit dem Hund und den Weg zum Eismann oft mit dem Fahrrad/Trike. Es ist für Linus nicht nur ein Fortbewegungsmittel, sondern ein großes Stück Freiheit und Lebensqualität. Seit August gehen wir mit Linus, zusätzlich zu seinem Wochenprogramm, noch einmal die Woche zur Hippotherapie (Reiten zur Gangunterstützung) und unterrichten ihn im Schwimmen und Klettern in einer großen Kletterhalle. Das Klettern fördert neben Kraft und Ausdauer auch die Orientierung, Bewegungsplanung und Körperwahrnehmung. Vor allem aber macht es ihm Spaß!

Die letzte Veränderung erfolgte im November 2019 nach seinem dritten Aufenthalt im Ambulanticum. Linus geht nun zwei Tage pro Woche in eine Tagesförderung, ein Angebot speziell für Menschen mit erworbenem Hirnschaden. Dort soll er selber Ziele formulieren und verfolgen, er kann Workshops wählen so wie Dinge des Alltags erlernen. Und er kann sich über Berufsperspektiven informieren und darauf hinarbeiten. Allerdings hat er immer noch kognitive Defizite und insbesondere die fehlende Erinnerung an die Zeit in Australien und den Unfall beschäftigen ihn häufig.

Die Fortschritte werden kleiner, aber es geht noch immer voran. Er läuft nun frei und ohne Begleitung zu Hause herum, macht sich morgens selbst fertig, erwartet rechtzeitig das Taxi, das ihn zum Therapiezentrum oder der Tageförderung bringt, er war zum Bowling mit seinen Freunden, schlägt beim Klettern seine eigenen Rekorde und hat das Rückenschwimmen und Kraulen erlernt.

Für seinen nächsten Aufenthalt im Ambulanticum hat er sich schon wieder Ziele überlegt. Sein Wille ist ungebrochen. Immerhin hat ihn dieser so weit gebracht und wird ihn noch weiter bringen. Für ihn und uns ist hier noch lange nicht das Ende erreicht. Das Gehirn ist eine Wundertüte, zum Glück!

 

   



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