„Aufgeben war keine Option.“

Endlich wieder laufen: Anouk Kapfer trainiert im Ambulanticum für ihr Ziel

Erst eine Berufsbildung in der Krankenpflege, anschließend ein Medizinstudium – mit Anfang 20 hatte Anouk Kapfer klare Vorstellungen von ihrem Leben. Doch dann kam alles anders: Nach einer Hepatitis-Impfung entwickelte sie Antikörper gegen die eigenen Nerven. Die Folge: CIDP, eine chronische Erkrankung des peripheren Nervensystems, die zu schweren Entzündungen im ganzen Körper führte. Zusätzlich entzündete sich durch eine Myelitis das Rückenmark und führte zu einer inkompletten Querschnittlähmung unterhalb des 10. Brustwirbels. Seitdem ist Anouk Kapfer gelähmt, sitzt aufgrund eines inkompletten Querschnitts seit acht Jahren im Rollstuhl. Im Rollstuhl hat die Gießenerin auch ihre Therapie im Ambulanticum begonnen – mit einem konkreten Ziel: Das Herdecker Therapiezentrum gehend zu verlassen.

Achterbahnfahrt zwischen Therapie und Bürokratie

„Ich möchte es anders machen als zu Beginn meiner Erkrankung. Damals bin ich mit Unterarmgehstützen ins Krankenhaus gegangen – und im Rollstuhl wieder herausgekommen“, blickt die zierliche Frau mit dem blonden Pagenkopf auf die Zeit zurück, in der ihr Leben eine schicksalhafte Wendung nahm. Eine Woche nach der Impfung fühlte sie sich schlecht. Sie begann zu zittern, konnte den Stift während einer Klausur nicht mehr halten, hatte Einschränkungen im Sichtfeld, schaffte es nicht mehr, ihr linkes Bein aufzusetzen. Sie ging ins Krankenhaus – und eine Achterbahnfahrt zwischen Therapie und Bürokratie, gesundheitlichen Rückschlägen und Neuanfängen begann.

„Ich war ein absoluter Sonderfall“, sagt Anouk Kapfer heute. CIDP und Myelitis: Welche Erkrankung zu welchen Einschränkungen und Beschwerden geführt hat, war ebenso wenig klar, wie die Prognose. Sie hörte alles: „Den Rollstuhl brauchen Sie vielleicht gar nicht“ genauso wie „Am besten finden Sie sich damit ab, dass Sie im Rollstuhl sitzen.“ Auch welche Therapie- oder Rehaeinrichtung ihr helfen kann und darf, wird auf langen bürokratischen (Irr-)Wegen im Gesundheitssystem geklärt: Ihre erste Reha bekam die heute 30-Jährige erst ein Jahr nach der Impfreaktion. „So lange hat es gedauert, bis sich die Krankenkassen und Versicherungen darüber geeinigt haben, wer zahlt und für was.“

Jahrelange Ungewissheit

Bis zu dem Zeitpunkt hatte die junge Frau keine Therapie und sich das Wichtigste selbst beigebracht – von der Rollstuhlmobilität bis hin zum Kathetern. „Es gibt da wirklich hilfreiche Youtube-Videos“, sagt sie ganz trocken. Aber allein gelassen und nicht ernst genommen hat sie sich lange gefühlt. „Rückblickend ärgert mich das. Ich habe einfach nicht gewusst, was möglich ist und hätte wahrscheinlich nicht so lang im Rollstuhl gesessen, wenn die Therapien eher begonnen hätten.“ Die erste Zeit ging es ihr schlechter und schlechter. Immer wieder kamen Schübe, immer wieder bekam Anouk Kapfer Kortison: „Ich wusste jahrelang nicht, wie es weitergeht. Und es konnte mir auch keiner sagen.“ Was sie aber wusste war: Sie will wieder laufen.

Als Anouk Kapfer ihren Neurologen wechselt, kommt sie dem Ziel ein erstes Stück näher. Sie entscheidet sich mit ihrem Arzt für eine Kortisonstoßtherapie, die Wirkung zeigt. Als ihr Mann sie von der Therapie abholt, sich auf ihrem Oberschenkel abstützt, um ihr einen Kuss zu geben, spürt sie die Berührung. „Das hat mir Auftrieb gegeben, mich motiviert“, sagt die Mutter eines heute einjährigen Kindes. Sie legte den Fokus, der sonst klar auf ihrem Psychologiestudium war, verstärkt aufs Training. Es geht ihr weiter besser, auch während und nach der Schwangerschaft nimmt die Motorik zu.

Endlich ernstgenommen

Im August 2022 kommt Anouk Kapfer zum ersten Mal zur Intensivtherapie ins Ambulanticum. Und zum ersten Mal fühlt sie sich ernst genommen: „Niemand hat gesagt: Finden Sie sich mit dem Rollstuhl ab“, erzählt die Psychologin. Im Gegenteil: Als Anouk Kapfer sagt, was sie mit der Therapie erreichen möchte, belächelt sie keiner. Drei Kilometer mit ihrem Kind am Strand entlanglaufen – auf einmal scheint das möglich. „Es hat mich irritiert und motiviert, dass mir keiner mein Ziel ausreden wollte“, lacht Anouk Kapfer, die im Januar 2023 zum dritten Mal in der Herdecker Einrichtung ist.

Sie trainiert hart. Arbeitet mit dem Ambulanticum-Team an ihrer Rumpfstabilität, übt, Bewegungen anzubahnen, bekommt Physio- und Ergotherapie, Sport- und Bewegungstherapie, absolviert Einheiten auf Lokomat und C-Mill. Sie lernt Fahrradfahren, trainiert Torwürfe mit einem Handball – und geht auf Sand. Mit Orthesen und auf dem Spielplatz statt am Strand, aber ihr Ziel ist zum Greifen nah.

Aufgeben war keine Option

„Es ist Wahnsinn“, sagt Anouk Kapfer glücklich. „Ich habe immer daran geglaubt, dass ich das Ambulanticum laufend verlasse. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich mein Therapieziel so schnell erreiche.“ Möglich gemacht hat das auch die enorme Unterstützung der Therapeut*innen vor Ort, da ist sie sich sicher. „Die war einfach großartig.“ Und auch, wenn der Weg schwierig und die Therapie manchmal so hart war, dass sie dachte sie kann nicht mehr: „Ich wusste, das Ambulanticum ist eine einmalige Chance“, so Anouk Kapfer. „Aufgeben war keine Option.“



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