Motivationspreis: Bemerkenswerter Mut zur Ehrlichkeit

Dr. Brigitte Mohn, Mitglied des Vorstandes der Deutschen Schlaganfall-Hilfe, hält Laudatio auf Dr. Bernhard Krahl

Vorbild und Unterstützung sein für andere Betroffene: Als Dr.Bernhard Krahl erstmals die Idee zu einem ambulanten Therapiezentrum für Menschen mit neurologisch erworbenen Erkrankungen hatte, war das seine große Motivation. Schließlich musste sich auch der Gründer des Herdecker Ambulanticum nach zwei Schlaganfällen zurück ins Leben kämpfen. Ein Weg, der schwer und lang war. Trotzdem gab Dr. Bernhard Krahl sich und sein Ziel nicht auf. Dafür wurde der 75-Jährige 2022 mit dem Motivationspreis der Deutschen Schlaganfall-Hilfe ausgezeichnet (Link zur Meldung). Vorstandsmitglied Dr. Brigitte Mohn übergab den Preis und hielt im Haus der Stiftung eine berührende Laudatio.

„Ich finde es ganz bemerkenswert, dass er anderen Menschen in seinem Therapiezentrum die Chance gibt, wieder ins Leben zurückzukommen“, so die Unternehmerin in ihrer Rede.  Es sei schön, dass es Menschen gebe, die aus der eigenen Tiefe heraus, anderen Mut machten.

Auch für die Autobiographie „Schlagseite“ des Ambulanticum-Geschäftsführers fand Dr. Brigitte Mohn lobende Worte: „Sie haben in Ihrem Buch so schön beschrieben, dass das Gesundheitssystem – und wir haben es an anderer Stelle schon gehört – den Patienten gar nicht immer hilft, sondern dagegen arbeitet.“ Und weiter: „Es ist bemerkenswert, dass Sie den Mut haben, so ehrlich zu sein.“

Mit seiner „ironischen, Mut machenden Art und Weise“ sage der frühere Zahnarzt anderen Betroffenen „Gib nicht auf!“ – selbst wenn es medizinisch scheinbar keinen Weg mehr gebe. Dr. Brigitte Mohn betonte, wie beeindruckend es sei, dass sich der Ambulanticum-Geschäftsführer „als Unternehmer, als Patient und als Beteiligter im Gesundheitssystem“ einsetzt und deutlich sagt: „Austherapiert?! Nehmt das nicht als gegeben an!“

Neben Dr. Bernhard Krahl zeichnete die Deutsche Schlaganfall-Hilfe neun weitere engagierte Menschen mit dem Motivationspreis aus. Eine Jury, zu der auch die ehemalige Frontfrau des ARD-Sportstudios Monica Lierhaus zählte, hatte die Preisträgerinnen und Preisträger aus 82 Nominierungen ausgewählt.

Weitere Infos zur Preisverleihung gibt es hier. Das Buch „Schlagseite“ von Dr. Bernhard Krahl kann hier bestellt werden.

Der Diagnose zum Trotz

Elisabeth Emunds trainiert für ein Leben ohne Rollstuhl

Als Elisabeth Emunds für eine Operation an der Bandscheibe ins Krankenhaus musste, hätte sie nie gedacht, dass dieser Eingriff ihr Leben von Grund auf ändern würde. Doch die Operation an der Brustwirbelsäule wurde für die damals 53-Jährige zum Schicksalsschlag: Der Ausgang der OP verlief nicht wie geplant. Als Elisabeth Emunds aus der Narkose erwachte, war sie querschnittsgelähmt.

„Das Erste, was man mir sagte, als ich wieder wach war, werde ich nie vergessen“, sagt die Berufsschullehrerin. „Sie werden nie wieder irgendetwas können“, lautete die niederschmetternde Diagnose der behandelnden Ärzte. Sie müsse sich damit abfinden, dass ihr Leben mit dieser inkompletten Querschnittslähmung nie wieder werde wie vorher.

Klares Ziel vor Augen

So wie vorher ist das Leben von Elisabeth Emunds mehr als ein Jahr nach der OP nicht. Aber sie kämpft sich zurück ins Leben, hat die Diagnose nie akzeptiert. „Vielleicht habe ich sie auch einfach nicht in ihrer ganzen Bedeutung verstanden“, sagt Elisabeth Emunds heute. „Aber mir war klar, ich will wieder laufen.“ Diesem Ziel ist sie in den vergangenen Monaten ein großes Stück nähergekommen – mit viel Kampfgeist, Einsatz, Unterstützung und Therapien, die sie auch im Herdecker Ambulanticum absolvierte. Mittlerweile kann Elisabeth Emunds am Rollator laufen und wenn sie ihre Orthese am linken Bein trägt, kommt sie mit einer Krücke Schritt für Schritt ein paar Treppenstufen voran.

Der Weg ins Ambulanticum

Der Weg dorthin war lang. Direkt nach der Operation ging es für Elisabeth Emunds in eine Akutklinik nach Bochum. „Da kamen erste Funktionen zurück“, erinnert sie sich. Vier Monate lang war sie in Bochum in Behandlung, und lernte mit dem Unterarmgehwagen und im Barren ein paar Schritte zu gehen. „Aber nur sehr, sehr wackelig und mit viel Unterstützung“, blickt Elisabeth Emunds zurück.

Während der Anschlussbehandlung in Bad Wildbad hörte sie zum ersten Mal vom Ambulanticum Herdecke. Ein Mitpatient gab ihr den Hinweis auf das interdisziplinäre Therapiezentrum. Sie nahm Kontakt auf, machte einen Kennenlerntermin aus und begann im Mai 2022 ihre erste Intensivtherapie. Sie hatte fünf Stunden am Tag Therapie, trainierte im Lokomaten, im 3D-Spacecurl, und im Kraftraum, hatte Krankengymnastik, Bewegungs- und Ergotherapie. „Der Fokus lag zu der Zeit ganz auf der Stärkung der Rumpfmuskulatur“, so Elisabeth Emunds. „Rumpf ist Trumpf. Ich weiß nicht, wie oft ich das gehört habe.“ Sie lächelt.

Ein Riesenerfolg

Die Arbeit an mehr Stabilität zahlte sich aus. In der zweiten Intensivtherapie bekam sie ihre Orthese angepasst, lernte mit dem Rollator zu gehen. In der dritten Intensivphase trainierte sie auch schon auf dem C-Mill-Laufband. „Mittlerweile kann ich mich 150 Meter mit Rollator fortbewegen“, sagt Elisabeth Emunds. „Das ist für mich ein Riesenerfolg.“ Ebenso wie die Tatsache, dass sie mit Krücke und Handlauf auch ein paar Stufen gehen kann und bei der Arbeit die Wege bis zum Lehrerzimmer nicht mehr im Rollstuhl absolvieren muss. „Es hat mir sehr geholfen, dass wir im Ambulanticum viele Situationen und Bewegungen aus meinem Alltag simuliert und trainiert haben“, betont Elisabeth Emunds. Für sie ist klar: Sie kommt weiter ins Ambulanticum, die nächste Therapiephase steht und ist für Anfang 2023 angesetzt. „Nach meiner Prognose hätte keiner gedacht, dass ich mal dahin komme, wo ich jetzt bin“, sagt Elisabeth Emunds, die aber noch weiterkommen möchte. „Ich habe den Traum, auch wieder ohne Rollator laufen zu können.“

„Ich musste ganz von vorne anfangen.“

Georg S. kann nach Querschnittlähmung wieder laufen

Der 6. Dezember 2016 war ein ganz normaler Arbeitstag für Georg S.. Der Maler und Lackierer arbeitete gerade in drei Metern Höhe, als er von der Leiter fiel. Er stürzte zu Boden. Die Leiter traf ihn am Kopf. Der Iserlohner erlitt ein offenes Schädelhirntrauma, brach sich einen Lendenwirbel. „Es ging gar nichts mehr“, sagt Georg S.. „Ich musste ganz von vorne anfangen.“ Im Ambulanticum fand er die richtige Therapie: Heute kann Georg S. wieder laufen. Doch bis dahin war es ein langer Weg.

Ein Rettungshubschrauber brachte Georg S. ins Krankenhaus, wo er ins künstliche Koma versetzt wurde. Die Diagnose lautete: inkomplette Querschnittslähmung. Die Prognose ließ offen, ob der heute 52-Jährige jemals wieder laufen können wird. Eine lange Reha- und Therapiegeschichte begann. Wochenlange Krankenhausaufenthalte, langes Warten auf einen Betreuungsplatz. Denn zurück ins eigene Zuhause konnte Georg S. erst einmal nicht. Er brauchte Hilfe – rund um die Uhr.

Motiviert statt deprimiert

Helfen sollten auch die Medikamente, die er bekam. „Und das waren sehr viele“, erinnert sich seine Lebensgefährtin. Die Tabletten blieben nicht ohne Nebenwirkungen. Georg S. nahm 30 Kilo zu, konnte sich nicht konzentrieren, entwickelte einen Tremor, zitterte ständig. Als er im November 2018 zum ersten Mal im Ambulanticum war, war ihm alles zuviel. „Die Therapeuten haben mit Engelszungen auf mich eingeredet“, sagt Georg Seelbach heute. „Aber es fehlte an der Konzentration, ich war deprimiert, wenig motiviert.“ Nach nur vier Tagen brach er die erste Therapiephase ab.

In Absprache mit seinem Neurologen entschieden Georg S. und seine Lebensgefährtin die Medikamente neu zu dosieren – indem sie sie reduzieren. Im April 2019 wurde ein Anti-Epilektikum langsam ausgeschlichen. „Das war die richtige Entscheidung“, weiß Georg S. heute. Er konnte sich wieder konzentrieren, war motiviert nicht deprimiert, verlor Gewicht und konnte sein Ziel verfolgen: endlich wieder zu laufen.

Ein großes Stück Selbstständigkeit

Zwölf Mal ist er seitdem zur Intensivtherapie im Ambulanticum gewesen. Im Sommer 2019 schaffte er zum ersten Mal 200 Meter auf dem C-Mill, etwas später stieg er Treppenstufen hoch. Erst lief er am Unterarmgehwagen, dann lernte er, mit Nordic Walking Stöcken zu gehen und mit Rollator voranzukommen. Er arbeitete mit seinem Therapeut:innen an seiner Rumpfstabilität, übte Gewichtsverlagerung, absolvierte Neuroathletik-Übungen und trainierte seine Feinmotorik. Während des ersten Corona-Lockdowns war er drei Monate lang zu Hause. Die Werkstatt, in der er arbeitet, war geschlossen. Also trainierte er unterstützt von seiner Lebensgefährtin viel mit dem Rollator. Mit Erfolg: Zu seiner Therapiephase im Juni 2020 betrat er das Ambulanticum zum ersten Mal nicht im Rollstuhl, sondern mit Rollator.

Seit seinem ersten Aufenthalt im Ambulanticum hat sich viel getan: Sein Gleichgewicht ist stabiler geworden, Übungen im Space Curl kann Georg S. besser umsetzen. „Ich habe mir ein großes Stück Selbstständigkeit erarbeitet“, sagt Georg S., der seit Ende 2021 auch wieder zu Hause wohnt.  Das Eigenheim wurde während seiner Krankenhausaufenthalte umgebaut und durch die Therapien und Übungen im Ambulanticum kann der 52-Jährige sich alleine anziehen, Hände waschen, Geschirr aus den Schränken holen und stehen. „Die Zeit im Ambulanticum hat mich ordentlich nach vorne gebracht. Allein frei stehen zu können, war für mich ein enorm wichtiger Schritt“, sagt Georg S.. „Und ich arbeite weiter. Ich mache immer noch Fortschritte, auch wenn sie kleiner sind.“

Motivationspreis für Ambulanticum-Geschäftsführer

Dr. Bernhard Krahl von Deutscher Schlaganfall-Hilfe ausgezeichnet

Dr. Bernhard Krahl, Geschäftsführer der Ambulanticum GmbH, ist mit dem Motivationspreis 2022 der Deutschen Schlaganfall-Hilfe ausgezeichnet worden. Alle zwei Jahre ehrt die Stiftung Betroffene, die sich mit großer Kraft zurück ins Leben gekämpft haben, und zeichnet engagierte Fachleute wie Ärzt:innen und Pflegekräfte sowie Ehrenamtliche aus.

Nach zwei schweren Schlaganfällen im Jahr 2007 fand Dr. Bernhard Krahl in Deutschland keine Einrichtung, welche ihm die notwendige Intensivtherapie ermöglichte, die er für seine Rückkehr in selbstständiges Leben benötigte. Um anderen Betroffenen diesen Weg leichter zu machen, gründete er vor zehn Jahren gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Marion Schrimpf das Ambulanticum, ein ambulantes interdisziplinäres Therapiezentrum für Menschen mit erworbenen neuromotorischen Erkrankungen. „Dr. Bernd Krahl hat mich immer sehr beeindruckt. Er ist ein Kämpfer“, würdigte Dr. Brigitte Mohn, Kuratoriums-Vorsitzende der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe, den Herdecker Preisträger in ihrer Laudatio. Aus den Tiefpunkten seines eigenen Lebens heraus mache er anderen Schlaganfall-Patienten Mut.

82 Menschen aus ganz Deutschland waren 2022 für den Preis nominiert, zehn von ihnen wurden in drei Kategorien ausgezeichnet. „Der Jury fiel die Entscheidung in diesem Jahr besonders schwer“, betonte Stifterin Liz Mohn. „Wir können heute nur wenige der Nominierten auszeichnen, doch im Grunde sind für uns alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer Gewinner!

 

Wiedersehen mit Patienten, Partnern und Wegbegleitern

Ambulanticum feiert großes Sommerfest zum Zehnjährigen

Herdecke. Gemeinsam mit rund 250 Gästen feierte das Therapiezentrum sein 10-jähriges Bestehen – und ein Wiedersehen mit Patienten, Partnern, Wegbegleitern und Unterstützern. „Zehn Jahre Ambulanticum sind einfach der perfekte Anlass, um sich wieder persönlich zu sehen und austauschen zu können, “ freut sich Marion Schrimpf, Geschäftsführerin des Ambulanticum.

Gemeinsam mit Gründer und Geschäftsführer Dr. Bernhard Krahl hatte sie zum Sommerfest im Zweibrücker Hof in Herdecke geladen, bei dem auch Bürgermeisterin Dr. Katja Strauss-Köster zu Gast war. Sie bedankte sich bei den Geschäftsführern für ihr Engagement, mit dem sie ein weiteres Aushängeschild für die Gesundheitsstadt Herdecke geschaffen hätten.

Bis in den späten Nachmittag erfüllten dann Live-Musik und angeregtes Stimmengewirr den Biergarten, freuten sich Gäste über das Wiedersehen, hielten Begegnungen in der Fotobox fest, ließen weiß-blaue Luftballons mit guten Wünschen in den Himmel steigen und sich die Gerichte vom Buffet schmecken. Bei vielen Gästen sorgte zudem Magier Wolfgang mit seinem Zauberprogramm für staunende und strahlende Gesichter.  Grund zur Freude hatte auch Bernhard Hedwig aus Wetter: Bei der großen Sommerfest-Tombola gewann er den Hauptpreis: eine Intensivtherapie im Ambulanticum. Der Erlös aus dem Losverkauf wurde für einen guten Zweck gespendet: Der Deutschen Hirnstiftung kommen so  3.285 Euro  zugute.

Für alle, die wollten, wurde es sportlich: Am Ufer der Ruhr waren besondere SUP-Boards im Dauereinsatz. Mit einer Länge von fünf Metern und zwei Metern Breite können sie bis zu zehn Personen gleichzeitig tragen – oder auch vier Rollstuhlfahrer und vier weitere Paddler. Eine seltene Gelegenheit, die viele Patienten und ihre Angehörigen nutzten. So wie auch der Tombola-Gewinner Berhard Hedwig, der zum ersten Mal mit seinem Rollstuhl auf einem SUP-Board war und ganz begeistert zurückkam: „Das Foto davon hänge ich mir auf“, sagt er und lächelt. „Damit ich mich immer wieder an dieses gute Gefühl erinnern kann.“ In Erinnerung wird das Sommerfest zum 10. Bestehen wohl so manchem Gast bleiben. „Es war wirklich sehr, sehr schön“, zieht Patientin Louisa Belli ihr persönliches Fazit. „Aber das Ambulanticum ist eben auch was ganz Besonderes.“

Bernhard Hedwig gewinnt Intensivtherapie beim Ambulanticum-Sommerfest

Feier zum 10-jährigen Bestehen / 3.285 Euro für Deutsche Hirnstiftung gesammelt

Herdecke. Neustart nach Corona-Zwangspause: Nach zwei Jahren ohne Sommerfest konnte das Ambulanticum Herdecke die Tradition endlich wieder fortsetzen: Gemeinsam mit rund 250 Gästen feierte das Therapiezentrum sein 10-jähriges Bestehen – und ein Wiedersehen mit Patienten, Partnern, Wegbegleitern und Unterstützern. Besonders groß war die Freude bei Bernhard Hedwig. Er gewann bei der großen Tombola den Hauptpreis: eine Intensivtherapie im Ambulanticum. Der Erlös aus dem Losverkauf – 3.285 Euro – kommt der Deutschen Hirnstiftung zugute.

„Nele ist eine Kämpferin.“

Mit Therapie und starkem Willen zu mehr Selbstständigkeit

Notkaiserschnitt. Zwei Operationen. Drei Monate Krankenhaus: Neles Start ins Leben war nicht leicht – und erst der Anfang einer langen Krankheitsgeschichte. Das kleine Mädchen war neurologisch auffällig. Konnte auch mit 1,5 Jahren nicht sitzen, nicht krabbeln. Eine Diagnose gab es nicht. Eine Prognose schon: Die Ärzte waren sicher, Nele würde nie laufen. Nie sprechen.  Heute ist Nele zwölf Jahre alt. Sie kann einige Schritte frei laufen. Sie erzählt. Kann etwas rechnen. Ein paar Wörter schreiben. All das hat Nele sich hart erkämpft. Mit ihrer Familie. Mit vielen Therapeuten. Und auch mit Unterstützung des Ambulanticum.

Kurzbesuch zum 10-Jährigen

Als Nele durch die Eingangstür des Therapiezentrums geht, strahlt sie. Hier kennt sie sich aus. Auch, wenn sie schon lange nicht mehr da war. Doch der Kurzbesuch zum 10. Geburtstag des Ambulanticum weckt viele Erinnerungen. An viele Wochen voll mit Trainingsstunden und Fortschritten, Rückschlägen und Hürden, Unterstützung, Motivation und Kampfgeist. „Nele ist einfach eine Kämpferin. Und ein Dickkopf“, Sandra Kohlof, Neles Mutter, lacht. „Sie hat sich nicht unterkriegen lassen.“

Intensivtherapie im Ambulanticum

2014 war Nele zum ersten Mal vor Ort. Eine Therapeutin hatte die neurologische Nachsorge der Herdecker Einrichtung empfohlen. „Sie war mit ihrem Latein am Ende“, blickt ihre Mutter zurück, die mit Nele bei vielen Therapeuten war. Erst arbeiteten sie mit der Therapie nach Bobath. Später nach Vojta. Das brachte Fortschritte. Aber krabbeln oder laufen konnte Nele mit  4 Jahren noch nicht . Im Ambulanticum bekam sie insgesamt drei Intensivtherapien mit Training am Lokomat, Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie und Hirnleistungstraining. „Das volle Programm“ erzählt Sandra Kohlof, die mit Nele auch zwischen den Therapiephasen zur Ergotherapie, Physiotherapie und Logopädie ins Ambulanticum fuhr. „Morgens war Nele dann im Ambulanticum, nachmittags im Kindergarten“, sagt die Mutter.

Die ersten Schritte ohne Hilfe

 Der Einsatz zahlt sich aus. Neles Sprachbild verbessert sich. Ihre Fein- und Grobmotorik auch. Sie fängt schnell an zu krabbeln, lernt an der Hand einige Schritte zu gehen. Heute läuft die Nele bis zu 25 Schritte allein. Bei ihrem Besuch im Ambulanticum geht sie ohne Hilfe zum Spacecurl, in dem sie auch als kleines Kind schon gerne trainiert hat. Als sie das Gerät noch einmal ausprobieren darf, hat Nele wieder Spaß. Sie lacht während Peter Meisterjahn, Therapeutischer Leiter im Ambulanticum, mit ihr trainiert – so wie früher.

 „Ohne das Ambulanticum wären wir nicht da, wo wir heute sind“, ist Sandra Kohlof überzeugt. „Nele hat sich viel Selbstständigkeit erarbeitet.“ Die Zwölfjährige geht gerne in die Schule, mag es, mit ihrem Therapiefahrrad unterwegs zu sein, spielt Keyboard. „All das wäre laut der frühen Prognosen nicht möglich gewesen“, sagt ihre Mutter, während sie zu ihrer Tochter blickt und lächelt. „Da hat Nele allen das Gegenteil gezeigt.“

„Ich wollte immer sehen, wie weit ich komme.“

Querschnittpatient Robert Steinbeck arbeitet im Ambulanticum an seinem Gangbild

Robert Steinbeck war 20 Jahre alt, als ein schwerer Autounfall sein Leben von einer Sekunde auf die andere veränderte. Er saß auf dem Beifahrersitz, als das Auto erst in einen Graben und dann gegen einen Baum fuhr. Der damalige Kfz-Mechaniker erlitt einen Halswirbelbruch. Er wurde ins Krankenhaus geflogen. Operiert. Lag 3,5 Wochen im künstlichen Koma, erlitt zwei Herzstillstände. Doch er überlebte – aller Prognosen zum Trotz.  Als er wach wurde, war er vom Hals abwärts gelähmt. Die Aussicht: ein Leben im Rollstuhl. Heute spielt Robert Steinbeck Rollstuhl-Rugby – und kann wieder gehen.

Zeigen, dass es anders geht

„Das Rückenmark ist durch. Das haben die Ärzte mir gesagt, als ich wach geworden bin“, erinnert sich Robert Steinbeck an die Worte, die erst einmal alles auf den Kopf stellten. Erst einmal. Denn der junge Auszubildende kämpfte, gab nicht auf. „Ich habe mir immer wieder gesagt: Ich zeig´, dass es anders geht.“

Sieben Wochen nach dem Unfall konnte Robert Steinbeck einen Zeh bewegen. Minimal zwar, aber es war ein Anfang. „Die kleinen Schritte sind entscheidend“, weiß er heute. „Sie zusammen führen zum Ziel.“ Als er im Krankenhaus einen Traum hatte, in dem er seine Beine bewegen konnte, erzählte er es aber niemanden: „Mir wurde ja immer gesagt, dass Laufen nicht drin sein wird.“ Also setzte er sich ein anderes Ziel: eigenständig leben können. „Ich wollte mich selbst anziehen und allein hochkommen, wenn ich mal falle“, so der heute 42-. Diese Ziele hat Robert Steinbeck längst erreicht. Und noch mehr. Nach 3,5 Monaten in Therapie war er das erste Mal auf einem Laufband. „Da bin ich die ersten 100 Meter gelaufen. In 12 Minuten und 31 Sekunden“, weiß er noch heute.

Therapiemüde

Nach sechs Monaten wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. Zwei Jahre nach dem Unfall hatte er die erste Reha.  „Dort habe ich angefangen, frei zu laufen. Ich bin oft hingefallen. Aber das war mir egal. Ich wollte sehen, wie weit ich komme.“ Einen eigenen Rollstuhl besaß er nie. Er wollte ohne vorankommen. 2007 machte er eine zweite Reha, dazwischen folgten viele Einzeltherapien. Dann lange Zeit nichts mehr. „Irgendwann war ich therapiemüde“, sagt Robert Steinbeck rückblickend. Er machte fast sieben Jahre eine Therapiepause. Konzentrierte sich auf sein Berufsleben. Machte eine Umschulung. Ging eine zeitlang zur Abendschule. Und fand einen Teilzeitjob an der Uni Hamburg. Dort arbeitet er heute als Teamassistenz am Lehrstuhl für Physik. Die Wege zwischen den Gebäuden, zu Büros und Hörsälen legt er nicht im Rollstuhl zurück – er läuft mit Gehhilfen.

Ganganalyse im Ambulanticum

„Dabei lag mein Fokus lange nicht auf dem idealen Gangbild“, gibt er unumwunden zu. Und das macht sich bemerkbar. „Ich habe mir eine Technik angewöhnt, die mich zwar vorwärts-, aber meine Gesundheit nicht weiterbringt“, sagt Robert Steinbeck. Wenn er läuft, ist sein Bein durchgestreckt, er schwingt vorwärts, nimmt seinen ganzen Oberkörper mit. Irgendwann machte der Rücken Probleme. Die Schmerzen waren so stark, dass der 42-Jährige nur noch krabbeln konnte. „So bin ich auf und ins Ambulanticum gekommen“, schildert er. Und dort wurde „Tacheles geredet“, wie er selbst sagt. Videoaufnahmen, Ganganalysen und das Feedback der Therapeut*innen zeigen dem Patienten: Die Technik, die er entwickelte, hat mit Gehen nicht viel zu tun und schadet dem Rücken und den Knien. Im Ambulanticum trainiert Robert Steinbeck seitdem an einem besseren Gangbild. Lieber langsam und richtig gehen, ist jetzt die Devise. Die Therapie sei intensiv, aber „phänomenal“, so Steinbeck. „Das habe ich zuvor noch nie erlebt. Auch in meinem Umfeld nicht. Hier wird individuell auf jeden eingegangen und alles greift ineinander. Das ist fantastisch.“

Hobby: Rollstuhlrugby

In einen Rollstuhl steigt der frühere Fußballer meist nur in seiner Freizeit. Robert Steinbeck  spielt seit 2011 Rollstuhlrugby, seit 2015 ist er Abteilungsleiter beim Rollstuhlrugby-Team des Alstersport e.V.. Einmal in der Woche wird trainiert, in der Regionalliga tritt die Mannschaft gegen andere Teams aus dem Norden an. „Da geht es dann schon richtig zur Sache“, erzählt der begeisterte Hobby-Sportler. „Es ist ein bisschen wie Autoscooter-Schach. Sehr taktisch, aber auch mit Vollspeed. Und viel Spaß.“ Robert Steinbeck lächelt: „Das Miteinander, die Teamzugehörigkeit ist wichtig und hat einen unglaublichen Mehrwert. „Das hätte ich schon viel früher machen sollen“, sagt er und zuckt kurz mit den Schultern. Zurückschauen ist nicht wirklich sein Ding. Wichtiger ist ihm nach vorne zu blicken. „Auch 20 Jahre nach meinem Unfall kann ich noch mehr rausholen. Nach all der Zeit kann ich jetzt zum Beispiel wieder 10 Sekunden auf meinem rechten Bein stehen.  Ich habe gelernt: Es geht immer etwas!“

 

Von Anfang an dabei: 10 Jahre Mitarbeiterin im Ambulanticum

Silke Biesemann und Anna Heun gehören seit 2012 zum Team

Ein Team aus 34 Mitarbeitenden, mehr als 200 Patient:innen pro Jahr, moderne Therapiegeräte,  internationale Kooperationen und zahlreiche Erfolgsgeschichten: Seit der Gründung des Ambulanticum im März 2012 ist viel passiert: Vom Exoten im etablierten Gesundheitssystem hat sich die ambulante Einrichtung zu einem Therapiezentrum entwickelt, das in der patientenorientierten Nachsorge neue Maßstäbe setzt. Eine Entwicklung, die Silke Biesemann und Anna Heun miterlebt und auch mitgeprägt haben. Die beiden Ambulanticum-Mitarbeiterinnen sind von Anfang an dabei und seit zehn Jahren Therapeutinnen in Herdecke.

„Das Ambulanticum hat damals etwas ganz Neues in der neurologischen Therapie angeboten. Das fand´ ich spannend“, blickt Silke Biesemann zurück. Seit dem 1. Februar 2012 gehört die Ergotherapeutin zum Ambulanticum-Team. Sie hat die Anfangszeit hautnah mitgemacht. Hat erlebt, wie Therapieabläufe gemeinsam entwickelt und das Team ganz bewusst interdisziplinär aufgebaut wurde. „Jeder kam aus einer anderen Richtung. Physiotherapeuten, Sportwissenschaftler, Ergotherapeuten arbeiteten zusammen – das war für mich neu. Und sehr interessant“, so die 53-Jährige.

Kein Schema F

Eine weitere Fachdisziplin kam kurze Zeit später mit Sprachtherapeutin Anna Heun dazu. Im Mai 2012 hat sie das Team ergänzt, das zu der Zeit noch weniger als zehn Mitarbeitende zählte. „Mich hat von Anfang an überzeugt, dass im Ambulanticum die Patient:innen im Mittelpunkt stehen. Es zählt, was ihnen guttut. Und dafür schauen wir immer wieder über den Tellerrand“, erklärt Anna Heun, warum sie bis heute gerne im Ambulanticum arbeitet.  Nicht nach Schema F vorzugehen, ist ihr und dem gesamten Team wichtig. „Ich konnte von Anfang an eigene Ideen einbringen, mich selbst ausprobieren, Neues einbringen. Dafür gab es Verständnis und vor allem Unterstützung“, so die gebürtige Herdeckerin, die ihren Job auch nach zehn Jahren sehr mag. „Ich gehe einfach gerne zur Arbeit ins Ambulanticum. Ich kann sehr individuell arbeiten und das Team ist einfach toll.“

Kleine Schritte – große Wirkung

Gemeinsam mit Silke Biesemann und dem gesamten Team hat sie seit der Gründung viele Menschen auf ihrem Weg zurück in ein möglichst selbstbestimmtes Leben begleitet und unterstützt. Einzelne Erfolgsgeschichten möchten beide da gar nicht hervorheben. „Es gibt so viele Beispiele. Und manchmal sind es die kleinen Schritte, die für die einzelnen eine große Wirkung haben“, sind sie sich einig. Schließlich kommen viele Patientinnen und Patienten mit schweren Krankheitsbildern. Sie sitzen nach Unfällen im Rollstuhl, können nach Schlaganfällen nicht mehr sprechen und laufen oder haben mit den Folgen eines Schädelhirntraumas zu kämpfen. Der Weg zurück ins Leben ist da sehr mühsam – und auch mal von Rückschlägen geprägt. „Da ist es dann wichtig, Mut zuzusprechen, Geduld zu haben und nicht aufzugeben“, so Anna Heun.

Patient:innen aus aller Welt

Auch nach zehn Jahren entwickelt sich das Therapiekonzept im Ambulanticum immer weiter. „Das ist ein kontinuierlicher Prozess. Der Stand, auf dem wir jetzt sind, ist ja über all die Jahre gewachsen“, so Silke Biesemann. Therapiegeräte haben sich weiterentwickelt, neue Kooperationen sind entstanden, neue Kollegen und Kolleginnen hinzugekommen – und Patienten aus aller Welt. Menschen aus ganz Deutschland, aber auch aus den Niederlanden, aus Russland oder Jordanien kommen nach Herdecke, um sich im Ambulanticum behandeln zu lassen. Selbst wenn die Corona-Pandemie die Arbeit in den vergangenen zwei Jahren erschwert hat: Es ging immer weiter. Und das soll es auch die nächsten zehn Jahre und darüber hinaus: „Was mit dem Ambulanticum entstanden ist, ist wirklich einmalig“, finden auch die beiden Mitarbeiterinnen, die zusammen mit dem Therapiezentrum ihr Zehnjähriges feiern.

 

Ambulanticum-Gründer veröffentlicht Mutmach-Biographie

Dr. Bernhard Krahl erzählt in „Schlagseite“ von seinem Weg in sein zweites Leben

Herdecke, 9. Mai 2022. Ambulanticum-Gründer und -Geschäftsführer Dr. Bernhard Krahl hat sein erstes Buch veröffentlicht. In seiner Autobiographie „Schlagseite“ erzählt der 75-Jährige aus seinem Leben – von seiner Kindheit und Jugend in Hagen über seine Schlaganfälle und den Weg zurück in einen selbstbestimmten Alltag bis hin zum 10. Geburtstag des Therapiezentrums Ambulanticum. Die Autobiographie kann ab sofort online bestellt werden. Auf der Website www.ambulanticum.de gibt es nicht nur weitere Informationen und Leseproben zum Buch, sondern auch ein Bestellformular.

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