Von wegen für immer

Rainer Erb kämpft sich aus dem Rollstuhl – und hat ein Buch darüber geschrieben

Rainer Erb sitzt an seinem Computer und arbeitet, als seine Knie plötzlich schwach werden. Der 55-jährige Zimmermeister fällt vom Stuhl – und kann sich nicht mehr bewegen. Von jetzt auf gleich ist er querschnittsgelähmt. Die Ursache ist bis heute unbekannt. Die erste Prognose lautet: Rollstuhl für immer. Ein Schicksal, in das sich Rainer Erb nicht fügen möchte. Er kämpft dafür, wieder auf die Beine zu kommen. „Von wegen für immer“ ist sein Motto – und der Titel eines Buches, das seine Geschichte erzählt.

Im Labyrinth aus Therapien und Anträgen

Zwölf Tage Erstversorgung im Krankenhaus Fulda. Sieben Monate in einer Spezialklinik in Bad Wildungen. Dann drei Monate Reha mit Vojta- und Wassertherapie. Nach den ersten sechs Monaten gibt es kleine Fortschritte, Rainer Erb kann ein Bein leicht bewegen. Zurück zu Hause beginnt die Physiotherapie vor Ort – bis zu 20 Stunden in der Woche arbeitet Rainer Erb an seinem Ziel, wieder laufen zu können. 

„Momentan gibt es für mich Therapie, Essen, Schlafen und Trinken“, sagt der Fuldaer. Aber für ihn gibt es auch:  ein Labyrinth aus Therapiemöglichkeiten, Anträgen und Absagen. Auch hier kämpft Rainer Erb sich durch – und schreibt alles auf. Das, was ihm durch den Kopf geht. Das, was er aus den Therapien mitnimmt. Das, was er im Bürokratiedschungel erreicht. Die Aufzeichnungen helfen ihm, seine Situation zu verarbeiten. Sie stützen ihn, treiben ihn an und werden die Grundlage seines Buches, mit dem er vor allem eines erreichen möchte: anderen helfen, die in einer ähnlichen Situation sind. „Ich möchte zeigen, dass man die Dinge auch selbst in die Hand nehmen muss, um was zu erreichen“, betont Rainer Erb.

Ein Training, das fordert und fördert

Die Arbeit an seinem Buch führt ihn auch ins Ambulanticum: Seine Biographin, Dagmar Wagner, macht ihn auf die ambulante Therapieeinrichtung aufmerksam. Schon beim Blick auf die Website merkt er: Die machen genau das, was ich brauche. Ein intensives, individuelles Training, das fördert und fordert. „Dabei gehe ich an meine Leistungsgrenze. Ich lasse nicht locker“, erzählt Rainer Erb, der von dem Therapiekonzept und der Umsetzung überzeugt ist: „Die Therapeut:innen sind richtig gut geschult und die vielen Hilfsmittel und Trainingsgeräte gibt es woanders in dieser Form nicht.“

Frei laufen – bis zur Rente

Gemeinsam mit seinen Therapeut:innen arbeitet Rainer Erb zurzeit daran, frei zu stehen, am Rollator zu gehen sowie an seiner Motorik und der Kraftentwicklung. „Mittlerweile drücke ich 20 Kilo mehr als in der letzten Therapiephase“, sagt er nicht ohne Stolz. Auch die Stabilität im Rumpfbereich hat sich wesentlich verbessert: „Zu Beginn war ich nach zehn Minuten Spacecurl-Training klatschnass geschwitzt – jetzt geht es mir danach gut. Das kann ich dem Ambulanticum zuschreiben.“ Im März kommt er noch einmal für eine weitere Intensivtherapie zurück ins Ambulanticum – und seinem Ziel vielleicht wieder ein ganzes Stück näher: „Bis zu meiner Rente in sieben Jahren möchte ich frei laufen können“, sagt Rainer Erb, während er sich auf den Weg zur nächsten Therapieeinheit macht. „Und dann. Dann schreibe ich ein zweites Buch“, sagt er. Und lächelt.

Weitere Infos zum Buch gibt es hier.

Der Wille, helfen zu wollen

Assistenten im Alltag unterstützen bei Ambulanticum-Aufenthalt

Für Borislav Davidkov war es ein ganz normaler Arbeitstag. Der Architekt hatte eine Besprechung, stand vor vielen Menschen in einem Raum mit wenig Sauerstoff. Auf einmal brach er zusammen, schlug mit dem Kopf auf dem Tisch auf, wurde bewusstlos – und wachte in einer völlig neuen Lebenssituation wieder auf: Seit dem Unfall ist der 53-Jährige vom Hals abwärts gelähmt. Im Ambulanticum möchte er sich einen möglichst normalen, selbstständigen Alltag erarbeiten. Dabei bekommt er Unterstützung von den „Assistenten im Alltag“. Der Assistenzdienst aus Unna begleitet und betreut den Frankfurter während seiner Intensivtherapie – 24 Stunden lang, rund um die Uhr.

Aufstehen, vom Bett in den Rollstuhl kommen, waschen, essen. Bei all diesen Tätigkeiten braucht Borislav Davidkov Hilfe. Durch seinen inkompletten Querschnitt hat er eine schwache Rumpfstabilität. Lange Zeit konnte er nicht ohne Rückenlehne oder auf einem normalen Stuhl sitzen. Es fällt ihm schwer, das Gleichgewicht zu halten und seine Beine zu nutzen. Auch die Arme sind in den Bewegungen eingeschränkt, die Hände kann er nur leicht einsetzen. Die ambulante Therapie im Ambulanticum – die Wechsel zwischen den Therapieräumen, die Trink- und Essenspausen – wären ohne Assistenten für ihn nicht machbar. „Trotzdem ist eine Therapie bei uns möglich“, betont Marion Schrimpf, Geschäftsführerin der Herdecker Einrichtung.

Ängste nehmen. Vertrauen aufbauen.

Nach Sichtung aller Anträge, Untersuchungsergebnisse und Klinikunterlagen griff sie zum Telefon und schlug Borislav Davidkov für die Therapiephasen die Zusammenarbeit mit einem Assistenzdienst vor. Der nahm den Vorschlag an und Kontakt zu Mark Oberstadt, Gründer und Geschäftsführer der „Assistenten im Alltag“, auf. „Ich wusste nicht, was mich erwartet, war unsicher und hatte viele Fragen“, erinnert sich der Ambulanticum-Patient an das erste Telefonat. Doch die Sorgen wurden ihm schnell genommen. „Ich habe sofort den Eindruck bekommen: Das sind erfahrene Leute, die kennen sich aus. Die Zuversicht, die verbreitet wurde, hat auch meine letzten Zweifel beseitigt.“ Ängste nehmen. Vertrauen aufbauen. Zuhören. Das ist Mark Oberstadt und seinem Team sehr wichtig. „Wir verbringen ja viel Zeit mit unseren Kunden, unterstützen auch in Pflege- oder privaten Situationen. Da muss die Chemie stimmen – und das Vertrauen auch.“

Möglich machen, was möglich sein muss

Auf das erste Telefonat folgte ein Kennenlerntag, an den beide schmunzelnd zurückdenken: Als die Assistenten mit ihrem Transporfahrzeug – einem Caddy – vorfuhren, war dem 1,95 Meter großen Borislav Davidkov sofort klar: „Mit Elektrorollstuhl passe ich da nicht rein“. Und er sollte recht behalten. „Da hatte ich mich etwas verschätzt“, erzählt Mark Oberstadt und muss bei der Erinnerung lachen. Ein Hinderungsgrund für eine Zusammenarbeit war das aber nicht. Der Geschäftsführer des Unnaer Assistenzdienstes schaffte kurzerhand ein größeres Fahrzeug an: „Wir versuchen immer, möglich zu machen, was möglich sein muss.“

Enge Abstimmung: Ambulanticum und Assistenzdienst

Der Fahrdienst vom Appartment zum Ambulanticum ist allerdings nur eine von vielen Aufgaben, die das Assistenzteam übernimmt. Zwischen acht bis neun Assistent:innen,- darunter auch Pflegekräfte – kümmern sich im Wechsel, aufgeteilt in Tages- und Nachtschichten, um die 24-Stunden-Betreuung. Sie kaufen ein, kochen, helfen bei der Körperpflege, beim Umziehen, beim Transfer in den Rollstuhl und unterstützen während der Therapiezeiten, wann und wo es nötig ist.

Dabei arbeitet das Team eng mit dem Ambulanticum zusammen. So wurde zum Beispiel der Therapieablauf flexibel geregelt: „Da die Morgenroutine vom Weckerklingeln bis zur Abfahrt mit dem Transporter rund drei Stunden benötigt, fängt für Herrn Davidkov kein Therapietag vor 10 Uhr an“, erklärt Mark Oberstadt. „Die Zusammenarbeit mit dem Ambulanticum läuft sehr gut. Wir werden problemlos miteingebunden und das wirkt sich natürlich auch positiv auf die Betreuung aus.“ Für Borislav Davidkov hat die Kooperation zwischen Ambulanticum und Assistenzdienst die ambulante Therapie erst möglich gemacht – und geholfen auch Probleme und Unwägbarkeiten auf dem Weg zu meistern. „Es war und ist mir ganz wichtig, dass die Motivation und der Wille da sind, mir helfen zu wollen. Und beides war immer da.“

 

IM GESPRÄCH

„Im Ambulanticum merke ich, was machbar ist.“

Borislav Davidkov setzt sich in der Intensivtherapie immer neue Ziele

Lange Klinik- und Rehaaufenthalte, Ergo- und Physiotherapieeinheiten: Seit seiner unfallbedingten Querschnittlähmung vor zwei Jahren hat Borislav Davidkov schon einige Therapien und Anwendungen kennengelernt. Ein Jahr nach dem Unfall erkannte er Fortschritte in seiner körperlichen Entwicklung. In den heimischen Therapie-Einheiten gelangen Stehversuche und bald auch erste Gehversuche. Er suchte nach einer Therapie, die ihn noch intensiver unterstützt. Die Intensivtherapie im Ambulanticum ist für ihn ein neuer Ansatz: Seit August 2021 trainiert er in der Herdecker Einrichtung 5,5 Stunden täglich an fünf Tagen in der Woche. Im Interview spricht er über seine Therapie und seine Ziele.

Wie erleben Sie die Therapie im Ambulanticum?

Ich finde es hier super. Die Therapie bekommt mir wirklich gut. Das Training ist effektiv, aber auch sehr anstrengend. Darum finde ich es sinnvoll und richtig, dass auf die vierwöchigen Trainingsphasen auch immer wieder Auszeiten folgen. Jede Trainingsphase bringt mich einen Schritt vorwärts. Die Trainingseinheiten und die Abstimmung der Physio-Ergo-, Logopädie- und Sporttherapie koordinieren meine Paten ganz hervorragend gezielt und individuell. Ich laufe täglich. Manche Einheiten mit gerätetechnischer Unterstützung wie im Lokomat und immer wieder am Unterarm-Rollator. Meine Selbstständigkeit in dieser Therapie zun erleben, motiviert mich sehr.  

Welche Ziele möchten Sie mit dem Training erreichen?

Grundsätzlich möchte ich so viel Selbstständigkeit und Mobilität wie möglich zurückerlangen. Ich möchte mein Gleichgewicht halten, selbstständig aufstehen, am Rollator laufen können. Am Computer arbeiten und eigenständig essen. Diese Wünsche habe ich durch das Ambulanticum in Ziele formuliert. Und hier merke ich auch, dass es machbar ist, diese Ziele zu erreichen. Vielleicht nicht alle und nicht in schnellen Schritten – aber kontinuierlich.  

Was haben Sie durch das Training bisher erreicht?

Das Team vom Ambulanticum hat hervorragende Arbeit geleistet und mir zu vielen Fortschritten verholfen. Grundsätzlich sind alle Funktionen der Arme und Beine, die ich zu Beginn der Therapie hatte, viel stabiler und selbstverständlicher geworden. Ich kann mittlerweile viel besser sitzen. Meine gesamte Rumpfstabilität hat sich enorm verbessert. Dabei hilft mir das Aufstehtraining sehr. Auch bin ich viel mobiler als zuvor und sitze viel öfter im Aktivrollstuhl. Ich weiß jetzt, wie ich meine Arme einsetzen kann und muss, um mich darin sicher fortzubewegen. Nicht immer auf den E-Rollstuhl angewiesen zu sein – das ist ein weiteres Ziel von mir. Das setzt aber voraus, dass der Transfer vom Rollstuhl in ein normales Auto funktioniert. Und das ist jetzt noch nicht möglich –  aber eines meiner zukünftigen Ziele. 

Die Therapie

Die Intensivtherapien im Ambulanticum folgen einem bewährten Behandlungsablauf, der Patient:innen und Angehörige in die Planung und Zielsetzung der Therapie miteinbezieht. Auf diese Weise entstehen sehr individuelle Trainingspläne, die kontinuierlich an die Fortschritte angepasst werden. Die Therapieeinheiten von Borislav Davidkov waren in kleine Choreografien unterteilt: Die erarbeiteten Fähig- und Fertigkeiten konnten so schrittweise in den Alltag übertragen werden. Der Patient lernt, welche Abläufe er alleine meistern kann und wo noch Unterstützung notwendig ist. Da auch Angehörige mit diesen Choregrafien und Abläufen vertraut gemacht werden, wird der gemeinsame Alltag – der Übertrag von der Therapie- zur Heimphase zu Hause – erleichtert.

Weitere Informationen zur Therapie im Ambulanticum gibt es unter www.ambulanticum.de

 

Sehen, was möglich ist.

Joost Meyer trainiert im Ambulanticum für ein selbstständiges Leben

Joost Meyer war auf dem Weg zu einer Freundin, um an der Disposition für seine Promotion zu arbeiten, als sich sein Leben von einer Sekunde auf die nächste veränderte: Bei einem Auffahrunfall auf der Autobahn wurde er schwer verletzt, sein erster Lendenwirbel brach, das Rückenmark wurde zerstört. Das war im Januar 2020. Seitdem ist der 45-Jährige von der Hüfte abwärts gelähmt. Diagnose: komplette schlaffe Paraplegie, Querschnittslähmung. Nach der OP war er vier Monate zur Erstmobilisation im Krankenhaus. Rund ein Jahr später kam Joost Meyer zum ersten Mal ins Ambulanticum. Dort trainiert er regelmäßig für mehr Selbstständigkeit und Unabhängigkeit im Alltag.

Gemeinsam Ziele setzen und erreichen

Den Weg ins Ambulanticum fand Joost Meyer über seinen Rehaberater. „Der hat mir direkt gesagt: Das passt zu dir. Geh´ dahin´“, erinnert sich der Bildhauer und Wissenschaftler. Er folgte dem Rat, vereinbarte ein Vorgespräch und war sofort überzeugt. „Ich fand das Konzept im Ambulanticum von Anfang an sehr, sehr cool.“ Im Mai 2021 begann seine erste Intensivtherapie in der Herdecker Einrichtung, im September dieses Jahres war er bereits zur dritten Therapiephase da. „Für mich ist es Luxus, dass ich hierhin kommen kann“, so der Aachener. „Es gibt einen Therapieplan, der individuell für mich erarbeitet wird. Die Therapeutinnen und Therapeuten besprechen mit mir, was meine Ziele sind. Und gemeinsam denken wir darüber nach, wie wir diese erreichen können.“

 

Körpergefühl und Koordination verbessern

Und diese Ziele verändern sich von Therapie zu Therapie. Sind erste „Meilensteine“ erreicht, werden neue gesetzt. „Meine Ziele sind quasi mitgewachsen“, bestätigt der Ambulanticum-Patient. Noch vor einem Jahr war es für ihn eine Herausforderung, auf der Bettkante zu sitzen und ein T-Shirt anzuziehen, ohne nach vorne zu kippen. „Das ist heute kein Problem mehr. Darüber denke ich gar nicht mehr nach“, so Meyer.

Sein Körpergefühl und seine Koordination haben sich verbessert, die Rumpfmuskulatur ist stärker geworden – ob beim Training im Spacecurl, durch Einheiten am Reitsimulator oder Übungen auf dem Lokomat®Pro, bei denen er während der aufrechten Gangbewegungen seine „Muskulatur wiederentdecken kann“, wie er es nennt. „Ich fühle mich insgesamt fitter und bin viel sicherer geworden.“ Treppen, hohe Bürgersteige oder andere Hindernisse, die Rollstuhlfahrern in ihrem Alltag immer wieder begegnen, machen ihm kein Kopfzerbrechen mehr. „Ich weiß: Wenn ich muss, komme ich da hoch. Wenn es darauf ankommt, geht das. Und das gibt mir eine unglaubliche Sicherheit.“

 

Kanufahren mit Querschnitt

Mittlerweile spielt Joost Meyer in seiner Freizeit Rollstuhl-Handball, trainiert einmal in der Woche und nimmt an Turnieren teil. „Dabei war es für mich ein Horrorerlebnis, als ich im Krankenhaus kurz nach dem Unfall eine Gruppe gesehen habe, die im Rollstuhl Ballsport gemacht hat. Ich habe nur gedacht: Und da gehörst du jetzt zu“, erinnert er sich an die schwierige Zeit nach dem Unfall. Dass Joost Meyer nicht aufgegeben und das Leben nach dem Unfall angenommen hat, liegt auch an seinen zwölf und 15 Jahre alten Töchtern. „Sie waren und sind mein Antrieb“, sagt er. Mit den Mädchen gemeinsam zelten und Kanufahren – das soll auch weiterhin möglich sein. „Ich setze mir Ziele mit und über die Kinder – und dann ziehe ich das durch.“

So trainierte er auch während der Therapie im Ambulanticum für einen Kanuausflug. „Für die Rumpfmuskulatur ist das eine totale Belastung“, weiß Joost Meyer, der mit seinen Therapeut:innen gezielt Muskeln für die Tour auf dem Wasser aufbaute, seine Koordination weiter schulte und viele Trockenübungen machte, bevor er es zur Praxiseinheit auf den nahegelegenen Hengsteysee ging.

Perspektivwechsel

„Und es hat alles super geklappt“, freut sich Joost Meyer darüber, wieder etwas geschafft zu haben, was nach seinem Unfall zunächst unerreichbar schien. Zu sehen, was möglich ist – das war auch schon vor dem Unfall eine Eigenschaft des 45-Jährigen. „Das ist eine Stärke von mir, zu versuchen, das Beste daraus zu machen“, erklärt er. Natürlich sei das mit einem Querschnitt erst einmal extrem. Extrem schwierig. „Aber ich habe eine Neugierde empfunden, was gehen kann.“ Durch den Unfall habe sich seine Perspektive geändert – im positiven Sinn. Selbst wenn viele Dinge anders und manche verloren seien. „Es ist viel hinzugekommen. Vor allem eine neue Wertschätzung für das Leben“, sagt Joost Meyer voller Überzeugung und fügt mit einem Lächeln hinzu: „Ich weiß, das klingt sehr groß. Aber genauso ist es.“

Bessere Bewegung durch Neuroathletik

Sportwissenschaftler Lars Lienhard über den Einsatz seines Konzepts in der Neurologie

Dass er Sport zu seinem Beruf machen würde, war Lars Lienhard immer klar. „Es gab keinen Plan B, keine andere Option“, so der Sportwissenschaftler, der als Trainer, Ausbilder und Berater im Spitzensport tätig ist. „Was sich aber daraus entwickelt hat – das ist schon toll“, fügt der 50-Jährige hinzu, der schon mit Olympiasieger Alexander Zverev oder auch der deutschen Fußballnationalmannschaft gearbeitet hat und dabei auf einen besonderen Trainingsansatz setzt. Denn Lars Lienhard ist Namensgeber des Neuroathletiktrainings (NAT), bei dem Gehirn und Nervensystem als zentrale Elemente der Bewegungssteuerung ins „klassische“ Athletiktraining einbezogen werden. Bei einer Fortbildung im Ambulanticum hat der Experte demonstriert, wie sein Konzept auch in der neurologischen Nachsorge funktioniert – und sich Zeit für ein Interview genommen.

Was unterscheidet das klassische Athletiktraining von der Neuroathletik?

Die Neuroathletik ist eine noch sehr junge Disziplin und Herangehensweise. Athletiktraining bereitet die physischen Komponenten eines Athleten auf den Wettkampf vor, während es bei der Neuroathletik um die sogenannten neuronalen Aspekte geht. Wir haben mit unserer Arbeit neurozentrierte Ansätze etabliert. Das heißt: Wir haben das Gehirn, das die Bewegung steuert – also quasi die „Software“ – in den Fokus genommen. Denn das Gehirn reguliert den Organismus. Jeder Bewegungsbefehl, der an den Muskel gegeben wird, wird vom Gehirn erstellt. Und mit dieser Schnittstelle arbeite ich, da setze ich an.

Wann ist es sinnvoll, mit Neuroathletik zu arbeiten?

Von Spitzensportlern wird Neuroathletik genutzt, um sich auf den Wettkampf vorzubereiten und eine bestmögliche Bewegungsoptimierung zu erzielen. Jede Bewegung hat ein neuronales Profil. Die bewegungssteuernden Systeme – wie das Gehirn und das Nervensystem – müssen bereit sein, diese Bewegungsabläufe zu erfüllen. Daher wird die Neuroathletik zum Beispiel auch eingesetzt, wenn es technische Probleme gibt, wenn Bewegungs- und Steuerungsprobleme da sind. Oder wenn Schmerzen auftreten.

Gibt es bestimmte Sportarten oder -bereiche, auf die Sie spezialisiert sind?

Die Bandbreite der Sportlerinnen und Sportler, mit denen ich arbeite, ist sehr groß. Ich arbeite viel im Wintersport, in der Leichtathletik – aus der ich ja sportlich herkomme – und natürlich auch im Fußball. Damit hat alles angefangen. Ich war als Betreuer bei der Fußball-WM 2014 in Brasilien dabei. Auch heute betreue ich immer wieder mal Fußballmannschaften, arbeite aber zum Beispiel auch mit Einzelsportlern wie Olympiasieger Alexander Zverev. Aber letztendlich spielt die Sportart an sich keine Rolle für meine Arbeit, da ich Bewegung korrigiere. Deshalb gelingt auch ein Transfer zu den Patientinnen und Patienten im Ambulanticum so gut. Dort geht es ja um die Bewegungsoptimierung von Menschen, die neuromotorische Probleme haben.

Haben Sie zuvor schon mal mit neurologischen Patienten mit Ihrem neuroathletischen Ansatz gearbeitet?

Nein. Das war in meiner Karriere bisher einmalig und ein Novum für mich und meine Tätigkeit. Ich präsentiere mein Konzept meistens im Sport-  und Fitnessbereich oder in Verbänden. Aber in privaten Institutionen, die sich auf neurologische, pathologische Systeme spezialisiert haben, war ich vorher noch nicht. Aber genau da gehört die Neuroathletik auch hin. Athleten haben ja quasi ein „Nobelproblem“, wenn sie die Bewegungssteuerung optimieren möchten und müssen. Die Patienten im Ambulanticum brauchen diese Unterstützung aber extrem. Sie brauchen jede Art der Verbesserung, die sie bekommen können.

Wie haben Sie die Fortbildung im Ambulanticum gestaltet?

Es war eine zweitätige Fortbildung mit dem ganzen Therapieteam und – was wirklich toll war – auch mit drei Patienten. So konnten wir schauen, wie der Ansatz der Neuroathletik auf bestimmte Diagnosen übertragen werden kann beziehungsweise welche Komponenten wir durch neurozentriertes, neuroathletisches Training optimieren können, um den Patienten noch zusätzlich zu helfen.

Können Sie ein Beispiel aus der Arbeit mit den Patienten am Ambulanticum nennen?

Eine Patientin hatte große Gangschwierigkeiten und konnte eine komplette Seite nicht ansteuern. Das heißt, die Bewegung war sehr instabil. Wir haben mit reflexiver Stabilisierung über das Gleichgewicht gearbeitet und das Gleichgewichtsorgan über verschiedenste Techniken stimuliert, zum Beispiel mit einem visuellen System für die räumliche Orientierung. Und es wurden deutliche Fortschritte sichtbar, die Bewegungen der Patientin waren sicherer. Das habe ich gesehen, das haben die Therapeuten gesehen und – was viel wichtiger ist – die Patientin hat gespürt, dass ihr die Bewegungen leichter fallen.

 Welchen Eindruck haben Sie vom Ambulanticum und seiner Arbeit bekommen?

Ich finde das Konzept des Ambulanticums sehr spannend. Sie gehen ihre eigenen Wege und wollen wirklich etwas für und mit den Patienten verbessern. Das habe ich so selten erlebt. Und ich kann mir auch vorstellen, ein Konzept für die Arbeit mit Menschen mit neurologischen Beeinträchtigungen zu entwickeln – auch wenn das nicht bei jedem Krankheitsbild gehen wird. Aber so etwas zu implementieren, das wäre schon toll.

 

„Ich wurde zum ersten Mal gefragt, was ich erreichen möchte.“

Schülerin Anni Hilbert trainiert im Ambulanticum das Laufen – und noch viel mehr

ICP. In der Neurologie stehen diese drei Buchstaben für Infantile Cerebralparese, eine Störung des Haltungs- und Bewegungsapparats, die auf eine frühkindliche Hirnschädigung zurückgeht. Allein 2019 gab es 3.240 Fälle in Deutschland, für 2021 werden 3.328 prognostiziert. Auch Anni Hilbert lebt mit einer Infantilen Cerebralparese. Als die Schülerin ein Jahr alt war, wurde die Krankheit bei ihr diagnostiziert. Unterkriegen lässt sich die heute Elfjährige davon nicht. Im Gegenteil. Mit viel Motivation, Durchhaltevermögen und Kraft erkämpft sie sich immer weitere (Bewegungs-)Freiheiten – auch mit Hilfe von Therapien im Ambulanticum.

Vorwärts ziehen statt krabbeln

„Dass Anni motorische Verzögerungen hat, hat sich schon früh gezeigt“, blickt Annis Mutter Uta Hilbert zurück. „Sie ist zum Beispiel nie gekrabbelt, sondern hat sich vorwärts gezogen.“ Ab dem zweiten Lebensmonat bekommt Anni daher Frühförderung, arbeitet mit Physiotherapeuten. Mit zwei Jahren hat sie ihren ersten Rollator, mit drei Jahren beginnt sie das Therapeutische Reiten. In einem ambulanten Therapiezentrum bekommt Anni Manuelle Therapie, intensive Physio- und Ergotherapie. Zwei Mal im Jahr, jeweils für zwei Wochen – bis das Zentrum 2018 schließen muss.

Erste Intensivtherapie im Ambulanticum

„Einen Nachfolger gab es nicht und auch etwas Vergleichbares haben wir in unserer Region nicht gefunden“, so Uta Hilbert, die mit ihrer Familie im Süden Deutschlands lebt. Dann lesen die Eltern in der Mitgliederzeitschrift der Techniker Krankenkasse einen Artikel über das Ambulanticum. „Zu dem Zeitpunkt hatte Anni fast zwei Jahre keine Intensivtherapie mehr – und das hat man auch gemerkt. Sie selbst war unzufrieden und wollte etwas machen.“ Die Familie stellt einen Antrag auf Intensivtherapie im Ambulanticum. Ostern 2021 beginnt die erste dreiwöchige Therapieeinheit. Es folgen zwei Wochen rund um Pfingsten und zwei Wochen im Sommer.

Training mit Spaßfaktor

„Es war Annis großer Wunsch, hierhin zu gehen. Und sie liebt es hier.“ Uta Hilbert lächelt, während sie zu Anni blickt, die gerade ihre Therapieeinheit auf dem C-Mill beendet hat, einem Gangtrainer, der mit Augmented und Virtual Reality arbeitet. Auch Anni strahlt. „Das Training auf dem C-Mill ist zwar besonders anstrengend, macht aber auch Spaß“, erzählt sie, dreht ihren Rollator zurecht, setzt sich und erzählt von ihrem Training. Von den Therapieeinheiten am Lokomaten oder im 3D-Spacecurl, in dem sie sich mit Gewichtsverlagerungen um die eigene Achse dreht und auch mal Kopf steht.

Mehr Körperwahrnehmung und besseres Gleichgewichtsgefühl

„Hier gibt es so viele Möglichkeiten. Das kenne ich von anderen Therapien gar nicht“, sagt die Elfjährige. Was sie auch nicht kannte: gefragt zu werden, was man selbst möchte, welche Ziele man hat. „Das hat mich vorher noch nie jemand gefragt“, fügt sie mit leisem Erstaunen hinzu. Und Anni möchte viel erreichen. Sie ist ehrgeizig. Trainiert eifrig. Zieht die täglichen fünf Stunden Training konsequent durch. „Sie ist da wie ein Uhrwerk und geht mit extremer Motivation rein“, bestätigt auch ihre Mutter. Müde wird sie nur, wenn sie ihr Bett sieht. „Sonst könnte ich weiter machen“, ergänzt ihre Tochter und lacht. Annis Einsatz zahlt sich aus. Die Wochen im Ambulanticum zeigen Wirkung. „Ihre Körperwahrnehmung und Aufrichtung haben sich extrem gewandelt“, hat Mutter Uta beobachtet. „Sie weiß jetzt sehr genau, wo sie ansetzen muss, um aufrechter zu laufen. Ihre Muskulatur und ihr Gleichgewicht haben sich verbessert.“

Alltagssituationen selbstständig bewältigen

Auch für viele kleine, alltägliche Situationen hat Anni die Zeit im Ambulanticum geschult. Konnte sie ihre linke Hand zuvor nur kurz drehen, kann sie jetzt ein Glas selbst halten. Oder ihre Arme hochstrecken, was für das selbstständige Waschen und Duschen wichtig ist. „Die Therapie im Ambulanticum orientiert sich sehr am Alltag der Patienten. Das finden wir wichtig und richtig“, sagt Uta Hilbert. Kostete es Anni sonst zehn Minuten, einen Strumpf anzuziehen, schafft sie es jetzt in einer Minute. „Weil die Therapeuten im Ambulanticum die ersten waren, die einen Strumpfanzieher ins Spiel brachten“, so die Mutter.

Schule und Schwimmtraining

Nach der Therapie und den Sommerferien hat für Anni zu Hause ein neuer Alltag begonnen: Die Elfjährige geht jetzt auf eine Regelschule und besucht ein Gymnasium in ihrer Heimat. „Schule ist schön. Ich lerne gerne. Und man macht Übungen, ohne es zu merken“, sagt Anni, die in ihrer Schule auch die Schwimmgruppe besucht. Ein Training, das gleichzeitig ein großes Hobby von ihr ist. „Wasser ist toll“, sagt Anni und lächelt. „Im Wasser bin ich leicht. Und im Wasser kann ich laufen.“

 

 

Neue Perspektiven im Para Sport

Lina Neumair ist Talentscoutin des Behinderten- und Rehabilitationssportverbands NRW

Anfang September sind die Paralympics zu Ende gegangen. Die Spiele in Tokio haben den paralympischen Sport in den Fokus gerückt – für einen Moment. „Im Alltag bekommen Para-Sportarten und die Sportler:innen mit Behinderung aber viel zu wenig Aufmerksamkeit“, ist Ambulanticum-Geschäftsführerin Marion Schrimpf überzeugt. Dabei sei Sport gerade für Menschen mit Behinderung eine wichtige Motivation. „Er sorgt für Erfolgserlebnisse und schafft Selbstbewusstsein“, weiß auch Lina Neumair. Als Talentscoutin des Behinderten- und Rehabilitationssportverbands NRW (BRSNW) hat sie den sportlichen Nachwuchs im Blick und sich die Therapiemöglichkeiten im Ambulanticum bei einem Besuch angeschaut.

Menschen für den Parasport begeistern

„Es ist wichtig und toll, dass es eine solche Einrichtung gibt, die gerätegestützt und sehr individuell arbeitet und zudem viele Sportwissenschaftler im Team hat“, so Lina Neumair. Seit 2019 arbeitet sie für den BRSNW als Talentscout – eine Stelle, die damals neu geschaffen wurde und mit der Nordrhein-Westfalen eine Vorreiterrolle einnimmt: Die 27-Jährige ist die erste hauptamtliche Talentscoutin für den Para Sport in Nordrhein-Westfalen. Sportler:innen, Familien, Schulen und Vereine beraten, talentierte Kinder und Jugendliche mit Behinderung  sichten, Menschen, die nach einem Unfall mit einem Handicap leben, (wieder) für den Sport begeistern – all das gehört zu den täglichen Aufgaben der Hattingerin. 

Vielfalt des Para Sports aufzeigen

„Mir ist es wichtig, den Para-Sport bekannter zu machen und die Vielfalt der Sportmöglichkeiten aufzuzeigen“, so Lina Neumair. Und zu denen zählen nicht allein Rollstuhlbasketball oder Paradressur – zwei Sportarten, die zu den bekannteren gehören. So können Parasportler:innen in NRW zum Beispiel im Para Tischtennis, Para Rudern, Para Badminton, Sitzvolleyball, Para Schwimmen oder in der Para Leichtathletik als Kaderathleten gefördert werden oder auch in einer Hobbygruppe ihre sportliche Heimat finden. Dafür betreibt Lina Neumair viel Aufklärungsarbeit, bringt Vereine und Sportler:innen zusammen und zeigt neue Wege auf: „Viele wissen gar nicht, welchen Sport sie mit Amputationen oder mit einem Querschnitt überhaupt machen können“, weiß die Sport- und Fitnesskauffrau, die nach ihrem Fachabi auch noch ein Bachelorstudium abgeschlossen hat. „Der Sport gibt vielen – gerade nach einem Unfall – neue Perspektiven.“ 

Erfolgreiche Sportlerinnen

So hat Lina Neumair zum Beispiel einem jungen Mädchen, das seit einem Autounfall querschnittsgelähmt ist und in der Leichtathletik aktiv werden wollte, dabei geholfen, den passenden Verein zu finden. Eine sehr erfolgreiche Athletin, die Lina Neumair begleitet, ist Gianna Regenbrecht. Die Medizinstudentin ist Para-Dressurreiterin im Bundesnachwuchskader, trainiert 

trainiert am Olympiastützpunkt DOKR in Warendorf, im Paralympischen Trainingszentrum (PTZ) in Frechen – und immer wieder auch im Ambulanticum. „So kam auch der Kontakt zum Therapiezentrum zustande“, erklärt Lina Neumair, die sich freut, ihr Netzwerk um das Ambulanticum erweitern zu können. „Hier findet man viele Therapiemöglichkeiten gebündelt an einem Ort und es kann sehr individuell gearbeitet werden.“ Weitere Informationen zu ihrer Arbeit, Schnuppertagen und -veranstaltungen für Interessierte gibt es unter: https://www.brsnw.de/leistungssport/talentscout/geschichten

Lernen, an sich selbst zu glauben

Gabriel hatte als Baby eine Hirnblutung – heute besucht er eine Regelschule

Gabriel macht vieles mit links: abstützen, hochziehen, greifen. Links ist die starke Seite des Sechsjährigen. Seine rechte Hand hat er lange gar nicht wahrgenommen. Nicht wahrnehmen können. Denn als Baby erlitt Gabriel eine Hirnblutung. Die Folgen: Er schaute nicht nach rechts, nutzte seine rechte Hand nicht, hatte motorische Defizite und machte seine ersten Schritte mit zwei Jahren. Fahrradfahren? Klettern? Eine Regelschule besuchen? Glaubte man den Ärzten, war das undenkbar. Dass es nicht unmöglich ist, hat der Schüler mittlerweile allen gezeigt: Denn heute kann Gabriel all das. Große Fortschritte hat der Erstklässler auf seinem Weg auch im AMBULANTICUM gemacht.

Schwere Diagnose

„Nach der Diagnose teilten uns die Ärzte mit: Haben sie nicht so viele Erwartungen. Gabriel wird vieles nicht können“, sagt Daniel Funke, Gabriels Vater, und seine Stimme klingt brüchig, wenn er von der schweren Zeit nach Gabriels Geburt erzählt. „Das hat meine Frau und mich natürlich niedergeschlagen.“ Das Elternpaar stand unter Schock, konnte den Ärzten aber keinen Glauben schenken. „Wir haben unser Kind gesehen und gedacht: Er wird mehr können“, so Mutter Stefanie. 

„Es muss doch noch mehr geben.“

Sie beginnen mit einer intensiven Frühförderung, Gabriel bekommt Physiotherapie und Ergotherapie. Regelmäßig besucht eine Therapeutin die Familie, arbeitet mit Gabriel vor Ort, hilft bei der Wahl weiterer Unterstützungsangebote. Auch seine Eltern machen zu Hause Übungen mit ihm, setzen immer wieder auch kleine Hilfestellungen um: Sie bauen eine Rampe, um ihr Kind beim Krabbeln lernen zu unterstützen. Ein gehäkeltes Band mit Glöckchen an der kleinen rechten Hand soll die Aufmerksamkeit auf die schwache Seite lenken. Als Gabriel 2,5 Jahre alt ist, kommt sein Bruder Jakob zur Welt. „Das hat Gabriel auch immer wieder unheimlich motiviert“, blickt Stefanie Funke zurück. Als der Kleine zu krabbeln beginnt, ahmt auch Gabriel die Bewegungsabläufe nach und wiederholt diesen Entwicklungsschritt nochmal.

Neben der intensiven Förderung und Therapien informiert sich das Ehepaar auch über andere Möglichkeiten, ihren Sohn zu unterstützen. „Das alles war ja schön und gut. Aber wir haben immer gedacht: Es muss doch noch mehr geben“, schildert der Familienvater. Seine Frau recherchiert. Sie stößt auf die gerätegestützte Therapie und auf das AMBULANTICUM. „Wir haben direkt gesagt: Das probieren wir aus und schauen, wie Gabriel die Therapie annimmt“, erzählen beide.

Bessere Körperwahrnehmung

Die Technikerkrankenkasse genehmigt die Intensivtherapie. Im September 2020 ist Gabriel zum ersten Mal in dem Herdecker Therapiezentrum. Sieben Wochen – drei Wochen im September, zwei Wochen im November und zwei weitere im März 2021 – arbeitet er mit dem Therapeutenteam. Mit großem Erfolg. „Als wir begonnen haben, wusste Gabriel, dass er seine rechte Hand braucht, wenn er bestimmte Sachen machen möchte“, erklärt Daniel Funke. „Das hatte er verstanden.“ Während der therapeutischen Einheiten lernt er, die rechte Hand unbewusst zu nutzen. Er gewinnt an Sicherheit. Weiß, er kann sich abstützen, abfangen – auch mit rechts. „Seine ganze Körperwahrnehmung hat einen enormen Schub bekommen“, findet Daniel Funke. Mit jeder Verbesserung glaubt Gabriel mehr an sich selbst. Probiert Neues aus. Gabriel traut sich, allein Fahrrad zu fahren. Bei Ausflügen auf den Spielplatz klettert er. Von sich aus. Ohne Motivation und Zuspruch von außen. „Das hat er sonst nie gemacht“, freuen sich die Eltern. „Das sind dann die besonders schönen Momente.“


Bewusste Entscheidung für die Regelschule

Im Ambulanticum fassen sie auch die Entscheidung, ihren Sohn auf eine Regelschule zu schicken – und die Anmeldung an einer Förderschule rückgängig zu machen. „Da haben uns die Gespräche mit Marion Schrimpf sehr geholfen“, so Daniel Funke. Die Ambulanticum-Geschäftsführerin plädierte dafür, Gabriel so starten zu lassen, wie alle anderen. Ihn nicht aus seinem sozialen Umfeld herauszunehmen und mit dem Bus eine halbe Stunde zur Schule fahren zu lassen. Stattdessen wurde der Junge mit seinen Kindergartenfreunden eingeschult und bekommt Unterstützung von einem Schulbegleiter. Dass ihr Sohn all das schafft und kann, überrascht die Eltern nicht. „Wir haben immer gemerkt: Er kann vieles. Er braucht nur die richtige Unterstützung“, betont StefanieFunke.

Potenziale des Patienten im Fokus

Diese hat die Familie auch im AMBULANTICUM gefunden. „Die positive Einstellung des ganzen Teams, die herzliche Atmosphäre und vor allem die individuelle Therapie haben uns sehr geholfen“, weiß Daniel Funke. „Die Potenziale des Patienten stehen im Mittelpunkt. Nicht seine Schwächen.“ Der Vater lächelt und seine Frau fügt hinzu: „Gabriel hat hier vor allem eines gelernt: Du kannst viel mehr als du denkst – und als die anderen gedacht haben.“

Rollator statt Rollstuhl

Udo Rahm lernt nach schwerem Schlaganfall das Laufen neu

Udo Rahm geht zwei Schritte. Dann setzt er den Gehstock nach vorne. Die Füße folgen. Konzentriert bewegt sich der 69-Jährige über die Flure des AMBULANTICUM. Langsam. Aber er läuft. „Das war vor zwei Jahren noch undenkbar“, sagt seine Frau, Elisabeth Rahm. Ein schwerer Schlaganfall hatte Udo Rahm 2018 in den Rollstuhl gebracht. Mit der Intensivtherapie im AMBULANTICUM hat er sich wieder herausgekämpft.

Prognose: Rollstuhl auf Lebenszeit

Das Leben von Elisabeth und Udo Rahm nahm im Dezember 2018 seine einschneidende Wendung. Udo Rahm erlitt einen schweren Schlaganfall. Seine rechte Seite war sofort gelähmt. Er konnte nicht sprechen, war völlig teilnahmslos. Als dann auch noch ein Herzinfarkt hinzukam, ging „erst einmal gar nichts mehr“, erinnert sich Elisabeth Rahm an diese schweren Zeiten. Auch die Prognose, die die Ärzte im Krankenhaus stellten, machte wenig Hoffnung: Rollstuhl auf Lebenszeit.

Enorme Fortschritte

Dass diese Prognose nicht Wirklichkeit wurde, hat das Ehepaar einem Zufall zu verdanken, der die Bochumer ins Herdecker AMBULANTICUM führte: „Unsere Tochter hatte eine Klientin, die im AMBULANTICUM enorme Fortschritte gemacht hat“, so Elisabeth Rahm. Sie informierte sich über die ambulante Therapieeinrichtung und beantragte eine Intensivtherapie bei ihrer Krankenkasse, der Barmer. Sechs Wochen ambulante Therapie wurden genehmigt – und von Erfolg gekrönt.

Im Rollstuhl rein – zu Fuß raus

„Mein Mann ist mit dem Rollstuhl ins AMBULANTICUM rein und zu Fuß wieder raus“, erzählt Elisabeth Rahm glücklich. Angereist war sie im Mai 2020 mit der kleinen Hoffnung, dass ihr Mann besser stehen können wird, um die Pflege zu erleichtern. „Aber dass er wieder läuft …das hätte ich niemals für möglich gehalten.“ Sie lächelt und ihr Mann nickt bestätigend. Noch heute leidet er an Aphasie, kann nicht sprechen, nur einzelne Worte artikulieren. Doch auch ohne Worte ist seine Motivation zu spüren. Ob er zur nächsten Therapieeinheit den Aufzug nehmen will? „Nein!“, sagt Udo Rahm deutlich, schüttelt den Kopf und steht langsam auf. Denn auch Treppen kann er mittlerweile wieder gehen.

Hilfestellung für Angehörige

Mittlerweile sind Elisabeth und Udo Rahm zur zweiten Intensivtherapie im Ambulanticum – mit einem neuen Ziel: Sicher am Rollator gehen. Dabei helfen ihm gerätegestützte Therapieneinheiten auf dem Lokomaten, Physiotherapie und Ergotherapie. Und auch Elisabeth Rahm bekommt während der Therapietage zahlreiche Hilfestellungen für den Alltag zu Hause – und findet immer auch ein offenes Ohr. „So eine Diagnose betrifft ja auch die Angehörigen und stellt das ganze gemeinsame Leben auf den Kopf“, erklärt die 65-Jährige. „Da ist es eine große Hilfe, dass die Therapeuten auch auf meine Fragen eingehen.“

Den neuen Alltag meistern

Seit dem Schlaganfall pflegt sie ihren Mann, fährt ihn zur Ergotherapie, begleitet ihn bei den Aufenthalten im Ambulanticum. Das gemeinsame Haus in Bochum wurde um- und ein Aufzug an der Außenfassade angebaut. In den Wohnräumen liegen Gymnastikball, Sitzkissen oder Therabänder für die täglichen Übungen bereit. Auch wenn der neue Alltag zuweilen schwierig und die wortlose Kommunikation zwischen dem Ehepaar anstrengend ist – aufgeben war für beide keine Option. „Wir sind seit 47 Jahren verheiratet. Ein Pflegeheim kam nie in Frage“, betont Elisabeth Rahm. „Wir haben unseren Weg gefunden, mit der Situation umzugehen – und das Ambulanticum, das uns dabei unterstützt.“

„Mein Ziel ist es, so lange wie möglich mobil zu bleiben.“

Spinocerebelläre Ataxie: Ambulanticum-Therapie hilft Volker Schürmann mit der Krankheit zu leben

Volker Schürmann geht mit seinem Rollator zur Treppe. Greift das Geländer, setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Er geht langsam die Stufen hinab. Langsam aber selbstständig. Diese Selbstständigkeit ist ihm wichtig. Selbstverständlich ist sie nicht. Denn Volker Schürmann hat eine spinocerebelläre Ataxie Typ 6. Die Koordination von Hand- und Beinbewegungen fällt ihm schwer, ebenso wie das sichere Stehen und Gehen. Auch Sprechstörungen und Doppelbilder gehören zu der Krankheit, deren Symptome über die Jahre hinweg immer weiter zunehmen. Mit kontinuierlicher Therapie kämpft der Rentner gegen den Verlauf an. Wie er mit der Krankheit lebt und die Therapie im Ambulanticum erlebt, hat er uns im Interview erzählt.

Wie hat Ihre Erkrankung Ihr Leben verändert?

Die spinocerebelläre Ataxie sorgt dafür, dass mein Kleinhirn degeneriert – mit allen möglichen Problemen, die das mit sich bringt. Sie beeinflusst meine Motorik, das Sprechen, den Gleichgewichtssinn. Die Sturzgefahr ist immer da. Denn das Gleichgewicht gerät bei mir schlagartig außer Kontrolle. Dank guter Therapie hier gelingt es mir aber ganz häufig, Stürze zu vermeiden. So dass ich mich in Situationen, in denen Sturzgefahr besteht, immer wieder fangen kann. Das war nicht immer so.

Wie hat sich diese Krankheit gezeigt und Ihren Alltag beeinflusst?

Das fing vor ungefähr 20 Jahren an. Ganz unscheinbar. Wenn ich normal gegangen bin, dann begann der Fußboden zu verwischen. Als nächstes habe ich nicht mehr scharf gesehen. Ich habe als Servicetechniker für Formanlagen gearbeitet und irgendwann festgestellt, dass ich die Zeichnungen nicht mehr richtig erkennen konnte. Wenn es dunkel war, verschwammen die Autos mit ihren Lichtern. Da habe ich mir schon gedacht: Irgendwas ist nicht in Ordnung. Nach einem Ärztemarathon wurde die Krankheit dann an der Uniklinik Essen nachgewiesen. Sie ist zwar nicht lebensverkürzend, aber beeinflusst mein Leben sehr, weil sie kontinuierlich fortschreitet. Bei meiner ersten Therapie im Ambulanticum 2016 konnte ich noch am Stock laufen. Das kann ich jetzt nicht mehr.

Seit fünf Jahren kommen Sie regelmäßig ins Ambulanticum. Was sind die Ziele, die Sie noch erreichen möchten?

Da man diese Krankheit überhaupt nicht aufhalten kann und es zurzeit absolut keine Medikamente gibt, die Besserung versprechen, hilft nur eine kontinuierliche Therapie. Sei es Krankengymnastik, Ergotherapie und natürlich auch Logopädie. Denn die Sprache ist mittlerweile auch stark betroffen. Diese Therapien führen zur Verlangsamung der Auswirkungen dieser Krankheit. Mein Ziel ist es, so lange wie möglich am Rollator mobil zu bleiben. Im Moment betrachte ich meinen Rollstuhl noch als Feind. Aber ich bin in einer Übergangsphase, weil die Strecken, die ich am Rollator zurücklegen kann, doch gewaltig geschrumpft sind.

Wie hilft das Ambulanticum Ihnen dabei, diese Ziele zu erreichen?

Durch die auf mich abgestimmten Therapien behalte ich meine Beweglichkeit. Es ist nicht eine einzelne Therapieform, von der ich sage: Die ist es. Die Kombination und die ständige Wiederholung machen den Unterschied. Das habe ich ganz deutlich gemerkt, als die Corona-Pandemie begann. Da gab es sechs, sieben Wochen keine Therapie. Da hat sich mein Zustand rapide verschlechtert. Ich bin häufiger gefallen bin, gehbare Strecken haben sich reduziert. In diesem Jahr, in dem ich wieder therapiert worden bin, habe ich meine alten Fähigkeiten zum größten Teil wieder zurückbekommen. So hilft mir das Ambulanticum, mein Leben relativ selbstständig bewältigen zu können.

Wie schaffen Sie es, sich selbst immer wieder zu motivieren und nicht aufzugeben?

Einmal ist es meine Grundeinstellung zum Leben. Die war immer positiv. Und ich habe nicht vor, das zu ändern. Das nächste ist das Ambulanticum. Und wenn ich Ambulanticum sage, meine ich das ganze Team. Ich komme zwei Mal in der Woche hierher. Zwischendurch auch zu Intensivtherapien. Und immer, wenn ich hier bin, wird mir geholfen. Hier zeigt man mir: Es geht nicht nur schlechter. Als ich das erste Mal hier war, sprach mich ein älterer Herr an. Damals wusste ich nicht, dass es der Ambulanticum-Geschäftsführer Dr. Krahl war. Er sagte mir: „Du musst dir eines merken: Aufgeben ist keine Möglichkeit. Auch wenn es dir mal schlechter geht – es geht immer darum, weiterzumachen.“ Und das mache ich. Ich sage mir immer, so lange ich hierherkommen kann, geht es mir gut.

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