„Ich wusste, ich werde wieder laufen.“

Rashide Serifi steht nach jahrelanger Therapie wieder auf eigenen Beinen

2012 sollte ein glückliches Jahr für Rashide Serifi werden: Die damals 21-Jährige war schwanger, freute sich gemeinsam mit ihrem Mann auf ihr erstes Kind. Doch die Geburt wurde für sie und ihre Familie zum lebensverändernden Wendepunkt: Eine Periduralanästhesie (PDA) mit einer verunreinigten Spritze löste eine katastrophale Kettenreaktion aus. Nach der Geburt ihres Sohnes bekam Rashide Serifi eine Hirnhautentzündung, Bakterien durchsetzten ihre Wirbelsäule mit Eiterherden. Durch mehrere Operation im Bereich der Wirbelsäule wurde das Rückenmark schwer geschädigt. Die junge Mutter war von einem Augenblick auf den anderen inkomplett querschnittgelähmt. Ihre Prognose: ein Leben im Rollstuhl.

Langer Leidensweg

Die Diagnose war ein Schock und der Beginn eines langen Leidensweges: Nach der Geburt lag Rashide Serifi zunächst vier Wochen auf der neurologischen Station. Ihr Zustand verschlechterte sich zunehmend. Kein Antibiotikum schlug an. Eine Not-OP wurde nötig. Sie wurde in die Uni-Klinik verlegt, ihr Leben hing an einem seidenen Faden. Doch Rashide überstand die Operation. So wie sechs weitere, die folgten. Sie war lange Zeit in Kliniken. Ihren kleinen Sohn sah sie so gut wie gar nicht. „Das war besonders schlimm“, erklärt die heute 30-Jährige, die sich nach den langen Klinikaufenthalten in einer Reha „an den Rollstuhl gewöhnen sollte“.  Ein Ziel, das für Rashide Serifi gar kein Ziel war. Sie wollte mehr. Sie wollte wieder laufen können. Für sich. Für ihren Sohn. Für ihre Familie. „Ein Leben im Rollstuhl war für mich keine Option“, sagt sie heute. „Ich wusste, wie schwer, lang und mühsam der Weg werden würde. Aber einen anderen gab es für mich nicht.“

Kleine Fortschritte für große Erfolge

Sie setzt alles daran, den Rollstuhl hinter sich zu lassen, wieder auf eigenen Beinen zu stehen und zu gehen. Mit unbändigem Willen und der Unterstützung ihrer Familie kämpft sie sich durch vier Jahre Rollstuhl und drei Jahre Therapie, die sie im Ambulanticum absolviert. Das Therapiezentrum in Herdecke war ein Glücksfall: „Nach negativen Erfahrungen in der Reha ging man endlich auf mich und meine Bedürfnisse ein“, sagt Rashide Serifi. „Das Ambulanticum bot genau das, was ich mir an Therapie vorgestellt habe.“ Im Mai 2013 kam sie zum ersten Mal ins Ambulanticum. Im Rollstuhl und mit schwacher Rumpfstabilität, aber mit einem großen Traum und hoher Einsatzbereitschaft. „Ich habe 100 Prozent gegeben – und bin manchmal nur 0,01 Prozent weitergekommen“, erzählt die Leverkuserin „Das war hart. Aber ich habe gelernt, dass auch kleine Fortschritte Erfolge sind und letztendlich zu großen Fortschritten werden.“

Zurück im Leben

Mit einem individuell auf sie abgestimmten Therapiekonzept trainierte Rashide Serifi ihre Muskulatur und ihr Gleichgewicht. Sie arbeitete im Spacecurl an ihrer Rumpfstabilität, übte mit verschiedenen Hilfsmitteln das Stehen. Am Lokomaten – einem Gangtrainer – ging sie unzählige Schritte. Immer und immer wieder.  Es folgten Trainingseinheiten auf dem Laufband, später die ersten freien Steh- und Gehversuche. Die Therapie brachte sie an ihre körperliche Leistungsgrenze. Es gab Tage, da fehlte die Kraft. „Natürlich waren da Momente, in denen ich nicht mehr wollte. Und nicht mehr konnte“, blickt Rashide Serifi zurück. „Aber das Team war immer für mich da und hat mich motiviert – auch wenn ich es ihnen sicher nicht immer leicht gemacht habe.“ Sie lächelt. Und sie strahlt, wenn sie von dem Leben erzählt, das sie heute führen kann: Zehn Jahre nach der Querschnittlähmung hat sie ihr Ziel erreicht – und noch viel mehr. Sie kann laufen, Autofahren, Sport machen. Und Rashide Serifi ist zum zweiten Mal Mutter geworden. Iljas ist heute drei Jahre alt und macht das Glück von Rashide Serifi, Ehemann Kenan und Bruder Mikail komplett. „Es war ein langer Weg“, sagt sie. „Aber für mich war immer klar: Ich werde wieder laufen.“

Neuer Ambulanticum-Film zum 10-jährigen Bestehen

Interdisziplinäres Therapiezentrum hilft Menschen zurück in ein selbstbestimmtes Leben

Herdecke, 10. März 2022Gesichter, die in die Kamera lächeln. Patienten beim Training. Wegbegleiter im Interview. Szenen aus Therapieräumen. Erinnerungen an Herausforderungen und Erfolge: Zum 10-jährigen. Bestehen des Ambulanticum Herdecke erzählt ein neuer Film die besondere Geschichte des ambulanten Therapiezentrums, das mit seinem interdisziplinären Konzept für viele Menschen mit Schlaganfällen, Querschnittlähmungen, Schädelhirntrauma, ICP oder Multipler Sklerose zu einem Ort der Hoffnung geworden ist.

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„Das Ambulanticum hat neue therapeutische Maßstäbe gesetzt.“

Interview zum 10-jährigen Bestehen der Herdecker Therapieeinrichtung

Herdecke, 10. März 202210 Jahre Ambulanticum Herdecke: Das ambulante interdisziplinäre Therapiezentrum begleitet seit 2012 Kinder und Erwachsene mit erworbenen Erkrankungen des zentralen Nervensystems (ZNS) auf ihrem Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben. Rund 2.850 Patient:innen sind seit den Anfängen im Ambulanticum behandelt worden, das mit einem interdisziplinären, individuell ausgerichteten Therapiekonzept eine neue Richtung in der gesundheitlichen Nachsorge einschlägt. Allein 200 Intensivpatient:innen werden Jahr für Jahr von dem 38-köpfigen Team aus Sportwissenschaftler:innen, Physiotherapeut:innen, Ergotherapeutinnen, Sprachtherapeuten, Logopädinnen, Verwaltung und einer Sozialarbeiterin behandelt und betreut.

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„Wir haben bewiesen, dass unser patientenorientierter Therapieansatz funktioniert.“

10 Jahre Ambulanticum: Im Gespräch mit Marion Schrimpf und Dr. Bernhard Krahl

2007 erlitt Dr. Bernhard Krahl zwei schwere Schlaganfälle, die er nur knapp überlebte. Der Zahnarzt und Inhaber eines Dental-Spezialartikel Unternehmens kämpfte sich entgegen allen Prognosen zurück ins Leben. 2012 gründete der heute 74-Jährige gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Marion Schrimpf das Ambulanticum, ein interdisziplinäres Therapiezentrum für Kinder und Erwachsene mit Erkrankungen des zentralen Nervensystems. Menschen, die nach Schlaganfällen, Querschnittlähmungen, Schädelhirntraumata, ICP und Diagnosen wie Multipler Sklerose oder Parkinson wieder auf die Beine kommen möchten. Seit zehn Jahren finden sie im Ambulanticum Unterstützung und Hoffnung. Wie die Gründer und Geschäftsührer der Herdecker Therapieeinrichtung diese Zeit erlebt haben, welche Herausforderungen sie meistern mussten und was sie sich für die Zukunft wünschen, erzählen Marion Schrimpf und Dr. Bernhard Krahl im Interview.

10 Jahre Ambulanticum: Wenn Sie darüber nachdenken, was kommt Ihnen als erstes in den Sinn?

Dr. Bernd Krahl:

Zuallererst sind es unglaublich viele Erfolgsgeschichten, an die ich denke.  Damit meine ich die Erfolge des Ambulanticum selbst. Es entspricht mit seinem Therapiekonzept nicht dem etablierten System, hat sich gegen viele Widrigkeiten durchgesetzt und neue therapeutische Maßstäbe definiert. Und natürlich denke ich auch an die Erfolge unserer Patient:innen.

Marion Schrimpf:

Wir sind stolz auf diese zehn Jahre. Stolz, dass wir bewiesen haben, dass der von uns gelebte patientenorientierte Ansatz funktioniert und dass Menschen, die als austherapiert abgestempelt werden, mit den richtigen Mitteln und Methoden großartige Fortschritte erreichen können. Sie erlangen Autonomie, Selbstbewusstsein und Handlungsfähigkeit wieder. Das motiviert uns, weiterzumachen. 10 Jahre Ambulanticum sind ein guter Anfang. Aber es gibt noch viel zu tun, damit eine effiziente und effektive Therapie wie wir sie im Ambulanticum vorleben, zur Regelversorgung wird.

Wie haben Sie die Anfänge des Ambulanticum erlebt?

Dr. Bernhard Krahl:

Es gab sehr viele Schwierigkeiten. Wir mussten uns von unseren Gründungspartnern trennen. Es gab quasi eine „Vollbremsung“ bei der Finanzierung, später dann waren alle finanziellen Ressourcen aufgebraucht und wir standen kurz vor der Insolvenz. Mit unserem privaten Vermögen sind wir dann volles Risiko gegangen. Wir haben weiter an das Projekt geglaubt – immer mit dem Ziel, unseren Patienten Hoffnung und eine neue Lebensperspektive zu geben.

Was waren auf dem Weg von den Anfängen bis zum 10. Geburtstag besondere Herausforderungen?

Marion Schrimpf:

Die bisher größte Herausforderung war die Anerkennung des Therapiekonzeptes in der Nachsorge durch die Kostenträger. Und diesen Kampf fechten wir bis heute aus. Wir kämpfen unentwegt dafür, das Konzept der Intensivtherapie im AMBULANTICUM® in die Regelversorgung zu bringen und diese Form der Therapie als eine eigene Säule neben der bestehenden medizinischen und pflegerischen Versorgung im Gesundheitssystem zu etablieren. Um das zu erreichen, haben wir ein interdisziplinäres Therapiekonzept erarbeitet, ein breites internationales Netzwerk aufgebaut und ein Team aus Therapeut:innen zusammengestellt, das unsere Vision mit uns trägt und vorantreibt.

Trotz aller Anfangsschwierigkeiten und Herausforderungen: Würden Sie diesen Schritt der Gründung noch einmal gehen?

Marion Schrimpf:

Ja, die Gründung des AMBULANTICUM® war ein notwendiger Schritt. Therapieeinrichtungen wie unsere werden dringend gebraucht.

Aber die letzten zehn Jahre haben auch gezeigt: So ein Projekt ist keines, das man nur aus Vernunftgründen angeht. Für so ein Projekt muss man brennen. Ansonsten überlebt man in unserem streng reglementierten Gesundheitssystem nicht – insbesondere, wenn man keine Wegbegleiter hat und alles – wie wir – selbst finanziert.

Wofür steht das Ambulanticum Ihrer Ansicht nach heute?

Marion Schrimpf:

Das Ambulanticum steht für ein einmaliges Konzept für Kinder und Erwachsene mit einer erworbenen Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS). Unsere Therapie stellt unsere Patient:innen in den Mittelpunkt. Wir vereinen alle therapeutischen Maßnahmen verschiedener Disziplinen individuell zum Wohle der Patient:innen und bringen sie in Einklang, um ein bestmögliches Ergebnis zu erzielen.

Dr. Bernhard Krahl:

Im AMBULANTICUM ermöglicht man den angeblich „austherapierten“ Patient:innen eine erfolgreiche individualisierte Intensivtherapie. Sogar nach vielen Jahren der Erkrankung machen sie noch Fortschritte und kommen ihrem Ziel wieder ein Stück näher. Darum steht das Ambulaticum für Hoffnung, die es den Menschen gibt, die als austherapiert gelten. Wir haben gezeigt, dass es sich lohnt, nach zeitgemäßen anderen Wegen zu suchen und nicht aufzugeben – und dass die Diagnose „austherapiert“ noch lange nicht das Ende ist.

Wie sehen Sie die Zukunft: Was möchten Sie mit dem und für das Ambulanticum und seine Patienten noch erreichen?

Dr. Bernhard Krahl:

Wir werden das Ambulanticum in eine Stiftung umwandeln. So ist die Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit langfristig gewährleistet – auch nach unserem Ausscheiden. Wir möchten, dass dieses zielführende Trainingstherapiekonzept des Ambulanticum von allen Kostenträgern akzeptiert wird und alle Kinder und Erwachsene mit einer Erkrankung des ZNS in naher Zukunft davon profitieren können.

Marion Schrimpf:

Dafür muss allerdings ein Umdenken in Gesellschaft und Politik erreicht werden. Die bürokratischen Hürden für eine solche Therapie müssen abgebaut werden. Und vor allem dürfen solche Therapiemöglichkeiten nicht am Geld scheitern. Bei einem sowieso schon unfairen Kampf, in dem es darum geht, sich Dinge „zurückzuerobern“, die den meisten Menschen selbstverständlich erscheinen, sollten zumindest alle die gleichen Chancen haben. Und die Hoffnung, wieder ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.

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