Reisen trotz Rollstuhl

Leonie Rebscher erobert sich ihre Selbstständigkeit zurück – und die Welt

Leonie Rebscher lacht in die Kamera. Mit der Reise nach Tansania hat sie sich einen großen Traum erfüllt: einmal auf Safari sein und Löwen, Nashörner oder Elefanten in freier Wildbahn sehen. Dieser Traum war für die 33-Jährige zwischenzeitlich scheinbar unerreichbar geworden: Bei einem schweren Verkehrsunfall vor 13 Jahren erlitt Leonie Rebscher ein Schädelhirntrauma, lag im Wachkoma, konnte lange nicht sprechen. Doch sie und ihre Familie gaben nicht auf: Die junge Frau erkämpft sich ihr Leben zurück, Stück für Stück. Und mit jedem Fortschritt zeigt sie sich und anderen, was auch mit Einschränkungen alles möglich ist.

Die Sprache zurückerobern

„Ich habe die Prognose nie akzeptiert“, sagt Leonie Rebscher heute. Sie spricht langsam, bemüht sich, jedes Wort deutlich zu artikulieren. Jeden Laut, jeden Buchstaben, jedes Wort hat sie sich in jahrelangem Training „zurückerobern“ müssen. Schließlich lag sie nach dem Unfall neun Wochen lang im Koma, eine Zeitlang zwischen Leben und Tod. Doch Leonie Rebscher überlebte. Sie kam in eine Einrichtung zur Frührehabilitation. Dort blieb sie ein Jahr und sieben Monate, begann wieder, ihre Umgebung wahrzunehmen, lernte, mit Hilfe einer Tastatur zu kommunizieren. Und nach neun Monaten ohne Sprache, sagte sie die ersten Worte. „Hallo Mama, hab ich gesagt“, erinnert sich Leonie Rebscher. Das war Heilig Abend 2010. Ab November 2011 lebte sie wieder zu Hause, ging zu ambulanten Therapien in Aschaffenburg und schließlich über lange Strecken zu Intensivtherapien in einer Pforzheimer Einrichtung.

Viel Eigenregie

„Dort haben wir vom Ambulanticum erfahren“, sagt Alwin Rebscher, Leonies Vater. Ein Patient erzählte von dem Herdecker Therapiezentrum, gleichzeitig stieß die Familie auf einen Bericht in dem Mitgliedermagazin der Techniker Krankenkasse. Die Eltern informierten sich, nahmen Kontakt zum Ambulanticum auf. Alles in Eigenregie. „Das war eigentlich immer so“, erzählt Alwin Rebscher. Nach der ersten von der Berufsgenossenschaft organisierten Frühreha in Gailingen hatte die Familie den Eindruck, ganz auf sich selbst gestellt zu sein. „Wir waren immer der Überzeugung, Leonie kann noch mehr erreichen“, so Rebscher. „Aber es gab keine konkreten Vorschläge, wie man sie weiter fördern oder therapieren könnte. Da fühlt man sich schon alleingelassen.“

Ziel: mehr Selbstständigkeit

2018 hatte Leonie Rebscher einen Probetermin im Ambulanticum. 2019 war sie zum ersten Mal zur Intensivtherapie vor Ort. Schon damals hatte sie ihr Ziel klar vor Augen: wieder laufen können. Dem Ziel ist die junge Frau in den vergangenen Jahren mit intensivem Training und in insgesamt 13 Therapiephasen in Herdecke ein ganzes Stück nähergekommen. Sie ging zur Ergo- und Physiotherapie, arbeitete beim Gerätetraining auf C-Mill und Lokomat, bekam eine Orthese, um ihren Gang zu stabilisieren und trainierte in der Logopädie ihre Sprache. Mittlerweile kommt Leonie Rebscher problemlos mit einem Rollator voran, kann sich auch zu Hause auf ihrer eigenen Etage selbstständig bewegen und auch die ersten selbstständigen Schritte mit Begleitung ohne Hilfe durchführen.

Wieder reisen

Und diese Selbstständigkeit ist es, die der jungen Frau, die vor dem Unfall eine Ausbildung zur Erzieherin  gemacht und parallel ein Studium zu Bildung und Erziehung in der Kindheit gemacht hat, besonders wichtig ist und am Herzen liegt. Als die Eltern allein im Urlaub waren, hat auch sie ihren Alltag größtenteils allein meistern können. Ein Fahrdienst brachte sie zum Kindergarten, in dem sie ein paar Stunden pro Woche arbeitet, die Großmutter kochte. Auch Fahrrad fahren kann Leonie Rebscher wieder, sie geht klettern, trifft sich mit Freundinnen aus ihrem früheren Handballteam und ehemaligen Studienkolleginnen  – und hat Pläne für weitere Reisen. „Vielleicht fliegen wir nach Australien, Bekannte besuchen“, sagt sie. Und als ihr Vater die lange Flugreise und die damit verbundenen Strapazen für Leonie anspricht, lacht sie und sagt: „Wir machen das. Ich bin dabei.“

Inklusion im Paddelsport: Ambulanticum organisiert Fortbildung

Kooperation mit dem Herdecker Kanu-Club 1023 e.V. / Neues Therapieangebot in Planung

„Inklusion im Paddelsport“ war das Thema eines Wochenendseminars, das vom Ambulanticum ins Leben gerufen wurde: In Kooperation mit dem Herdecker Kanu-Club 1025 e.V. plante und organisierte die ambulante Therapieeinrichtung eine zweitägige Fortbildung auf dem Vereinsgelände an der Ruhr. Ziel ist es, Menschen mit und ohne Behinderung die Möglichkeit zu geben, den Paddelsport zusammen auszuprobieren und für sich zu entdecken. Der eigens für die Veranstaltung gebuchte Referent für Inklusion des Deutschen Kanu-Verbands (DKV) und Leiter des Inklusiven Wassersportzentrums Wilhelmshaven, Heinz Ehlers, ergänzte das Know-how der Therapeuten und Kanuten um seine eigenen Erfahrungen bezüglich dessen, was beim gemeinsamen Paddeln zu beachten ist.

Das therapeutische Paddeln schult den Gleichgewichtssinn und trainiert die Rumpfstabilität und soll in Zukunft auch für die Patient*innen des Ambulanticum angeboten werden. Möglich machen das spezielle Boote mit entsprechenden Adaptionen sowie Tandemteams aus Therapeut*innen und Kanut*innen.

 

Ruhr ahoi

Paddeln für alle in Herdecke

„Das war eine coole Aktion“, begeistert sich Frank W. nach der Paddeltour auf der Ruhr. Mit seinem Handbike-Rollstuhl ist er zum Vereinsgelände des Herdecker Kanu-Club 1925 e.V. gekommen, um am Wochenendseminar „Inklusion im Paddelsport“ teilzunehmen. Vor einem schweren Arbeitsunfall im Jahr 2018 war er Leistungsschwimmer.

„Gemeinsam aufs Wasser“ oder „Alle paddeln mit“ klingt zunächst gut, ist aber nicht überall eine Selbstverständlichkeit. In Herdecke wurde am ersten Maiwochenende 2023 ein großer Schritt in Richtung „Miteinander auf Augenhöhe“ getan: Das Ambulanticum plante und organisierte in Kooperation mit dem Herdecker Kanu-Club 1925 e.V. auf dem Vereinsgelände an der Ruhr eine zweitägige Fortbildung. Der eigens für diese Veranstaltung gebuchte Referent für Inklusion des DKV und Leiter des Inklusiven Wassersportzentrums Wilhelmshaven, Heinz Ehlers, ergänzte das Know-how der Therapeuten und Kanuten um seine eigenen Erfahrungen bezüglich dessen, was beim gemeinsamen Paddeln für Menschen mit und ohne Behinderung zu beachten ist.

Beim adaptiven bzw. unterstützenden Wassersport liegt der Focus auf den Fähigkeiten, die jeder mitbringt. Daher werden, bevor es gemeinsam aufs Wasser geht, immer zuerst die individuellen Bedürfnisse geklärt, anschließend dann passende Boote und Adaptionen individuell zusammenstellt. Dabei steht die maximale Sicherheit von allen Beteiligten im Vordergrund.

Was durch ein starkes Netzwerk möglich wird, zeigte das Therapeutenteam des Ambulanticum gemeinsam mit engagierte Kanut*innen aus dem Herdecker Kanu-Club und dem Nachbarverein Wasserwanderer Hagen e.V.. So beispielsweise, wie spezielle Einstiegshilfen, stabilisierende Sitzmöglichkeiten im Boot oder Paddel für Menschen mit einseitigen Lähmungen eine Teilhabe ermöglichen. Für das Paddeln mit Patienten wurden nicht nur geeignete Boote oder SUPs, sondern auch passende Adaptionen ausgewählt. Bei schönstem Paddelwetter wagten sich dann erste inklusive Tandemteams miteinander auf die Ruhr. In der  Austauschrunde am Ende des Tages waren sich alle einig: „Wir bleiben dran und machen miteinander weiter!“

Frank hat der Tag mit der Gruppe und die Zeit auf dem Wasser vor allem eine Menge Spaß gemacht. Für ihn war es „eine ideale Abwechslung zum Therapiealltag“. Und er ist sich sicher: „Wassersport in der Gruppe ist für ein Miteinander auf Augenhöhe einfach super! Er verbessert nicht nur das körperliche Wohlbefinden, sondern stärkt auch das Selbstbewusstsein.“

Fazit: Für unsere Patienten soll zukünftig therapeutisches Paddeln, das beispielsweise den Gleichgewichtssinn oder die Rumpfstabilität trainiert, angeboten werden. Geeignete Boote, Adaptionen und Tandemteams aus Therapeuten und Kanuten sollen das ermöglichen.

„Ich bin nicht kleinzukriegen.“

Stephan Lorscheter musste nach einem Schädelhirntrauma alles neu lernen

„Ich bin nicht kleinzukriegen“. Stephan Lorscheter sagt das langsam, konzentriert und voller Ernst. Der 39-Jährige weiß, was es heißt, zu kämpfen. Durch einen Motorradunfall vor vier Jahren erlitt er ein diffuses Schädelhirntrauma. Seitdem arbeitet er sich vom Schwerstpflegefall zurück in die Selbstständigkeit. Nach schwierigen Reha-Zeiten während der Coronapandemie, zahllosen Therapiestunden und vielen Neuanfängen holt Stephan Lorscheter sich im Ambulanticum den „Feinschliff“, wie er sagt. In dem Herdecker Therapiezentrum hat er seine „Wunderwerkstatt“ gefunden.

Prognose: Schwerstpflegefall

Der Name kommt nicht von ungefähr: Für Stephan Lorscheter und seine Familie gleicht es einem Wunder, dass der gelernte Heizungsbauer heute wieder sprechen und am Rollator gehen kann. „Uns wurde kurz nach dem Unfall gesagt, Stephans Gehirn sei zu 90 bis 95 Prozent defekt. Er würde immer ein Schwerstpflegefall bleiben“, erinnert sich seine Mutter an die schlimmen Tage der Sorge und Ungewissheit. „Ich bin sicher, hätten wir ihn zur Organspende freigegeben, wäre er nicht mehr am Leben.“ Aber Stephan Lorscheter lebt.  Nach zwei Reanimationen und sechs Wochen im Koma wachte er wieder auf – an dem Morgen, nachdem sich seine Eltern auf Raten der Ärzte schon verabschiedet hatten.

Alles neu lernen

Nach zwei weiteren Wochen Klinikaufenthalt ging es für den Saarländer in die Frühreha. „Dort wurde er sehr gut versorgt und hatte eine 24-Stunden-Betreuung“, erzählt seine Mutter Beatrix Puhl. Doch dann kam Corona. Stephan Lorscheter musste den Beatmungsplatz frei machen, kam auf eine andere Station, seine Eltern durften nicht mehr zu ihm. „Da wurde er aufgrund seines starken Tremors fünffach am Bett fixiert, 24 Stunden lang. Nur für die Logopädie wurde er losgebunden “, so Beatrix Puhl. „Das waren wirklich schlechte Erfahrungen.“ Zurück zu Hause sorgt ein 24-Stunden-Pflegedienst für Stephan Lorscheter, er erhält Logopädie und Ergotherapie, wird viel mobilisiert. „Alles, was ich jetzt kann, musste ich ganz neu lernen“, so Lorscheter. Er erkämpft sich seine Sprache zurück, wird Linkshänder, weil sein rechter Arm vom Tremor geschüttelt wird, lernt, mit dem Rollstuhl zurechtzukommen.

Im Rollstuhl rein, am Rollator raus

Im Rollstuhl beginnt er auch seine erste Intensivtherapie im Ambulanticum. Mit seinen Therapeuten schult er sein Gleichgewicht, trainiert viel auf dem C-Mill, dann am Lokomat. Weil sein Kurzzeitgedächtnis seit dem Unfall nicht gut funktioniert, macht er Hirnleistungstraining, bekommt Ergotherapie und Logopädie. „Die Therapie im Ambulanticum ist ganz auf den Patienten ausgerichtet“, so Lorscheter, der bereits nach der ersten Intensivtherapie das Ambulanticum mit dem Rollator verlassen konnte. Mittlerweile war er noch weitere zwei Male in Herdecke. Eine weitere Intensivtherapie ist beantragt. Schließlich hat Stephan Lorscheter noch große Pläne. „Ich möchte wieder arbeiten gehen und selbstständig in einer eigenen Wohnung leben“, verrät er. „Einfach ein normales Leben führen. Und dafür gebe ich weiter Vollgas.“

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