Alles auf Anfang

Sarah Kraft lernte nach einem schweren Schädelhirntrauma das Laufen und Sprechen neu

Langsam setzt Sarah Kraft einen Fuß vor den anderen. Schritt für Schritt geht sie die Treppe hinauf. Ohne Gehstock. Ohne sich am Geländer festzuhalten. Lange Zeit sah es nicht so aus, als würde die 35-Jährige jemals wieder selbstständig laufen können. Nach einem schweren Schädelhirntrauma lag sie monatelang im künstlichen Koma, war zwei Jahre auf den Rollstuhl angewiesen. Doch Sarah Kraft straft ihre Prognose Lügen und kämpft sich zurück in ein selbstständiges Leben – auch mit Hilfe der Intensivtherapie im Ambulanticum.

Drei Mal war die Hamburgerin bereits zur Therapie in Herdecke. Das erste Mal im April 2019, zum letzten Mal Anfang 2023 – und mit jeder Therapiephase hat Sarah Kraft einen weiteren Erfolg verbucht. „Zur ersten Therapiephase kam ich mit dem Gehwagen. Nach vier Wochen habe ich das Ambulanticum mit dem Gehstock verlassen“, erzählt Sarah Kraft. Sie spricht langsam. Konzentriert. Auch ihre Sprache musste sie erst wiederfinden. Mehr als zwei Jahre dauerte es, bis sie wieder sprechen konnte. 

Echte Meilensteine

Logopädie war auch während der dritten Phase im Ambulanticum ein fester Bestandteil der Therapie. Ebenso wie Ergotherapie und gerätegestützte Übungen. Sie bekam Physiotherapie, war täglich auf dem C-Mill, trainierte ihr Gleichgewicht, stärkte ihre Rumpfmuskulatur und arbeitete mit ihren Therapeut*innen an dem Bewegungsausmaß ihres rechten Arms. „Rechts ist meine schwache Seite“, erklärt Sarah Kraft. „Der Arm war lange sehr spastisch.“ Mittlerweile kann Sarah Kraft aber nicht „nur“ wieder frei laufen, sondern auch ihren rechten Arm viel besser steuern und einsetzen. „Der rechte Arm hat sich so toll entwickelt. Das ist ein echter Meilenstein für mich“, freut sich die gelernte Industriekauffrau, die im letzten Jahr bereits Praktika bei ihrem Arbeitgeber absolvieren konnte und wieder stundenweise ins Berufsleben zurückkehren wird. 

Niemals aufgeben

Das Ereignis, das Sarah Kraft aus ihrem früheren Leben gerissen hat, welches sie sehr liebte, war ein schwerer Autounfall. Im Dezember 2016 war die damals 29-Jährige auf dem Weg nach Hause, als sie beim Überqueren der Straße von einem Auto erfasst und schwer verletzt wurde. Im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf kämpfte sie zwei Wochen lang um ihr Leben. An dem Geburtstag ihrer Mutter wachte sie aus dem viermonatigen Koma auf –  und war ein Pflegefall. Sie musste alles neu lernen. „Ich hatte zwischendurch auch ein ganz schönes Tief und wollte so nicht mehr weitermachen“, blickt Sarah Kraft zurück. Aufgegeben hat sie trotzdem nicht. Auf zwei Jahre Reha folgten unzählige Therapieeinheiten – in Therapiezentren und auch zu Hause. 

Zukunftspläne

„Meine Mutter, mein Freund und meine Freunde haben mich nicht aufgegeben und waren für mich da, das hat mir sehr viel Kraft gegeben“, sagt sie heute. Die schöpft sie auch aus ihrer Zeit im Ambulanticum, auf das sie durch ihren Rehamanager aufmerksam wurde. „Im Ambulanticum liegt der Fokus auf jedem einzelnen Patienten. Jeder wird ernst genommen. Die Therapeut*innen sind herzlich und leben und lieben ihren Job. Sie sehen den Menschen“, betont Sarah Kraft, die weiterkämpft und Pläne für die Zukunft schmiedet: „Ich möchte wieder arbeiten. Und Autofahren. Sicher laufen können. Und Stück für Stück meine Eigenständigkeit zurückgewinnen.“

Das Erreichte erkennen

Schlaganfall-Patient Bernhard Hedwig gewann seine Lebensfreude zurück

Abergläubisch ist Monika Hedwig eigentlich nicht. Aber als sie im September 2022 mit ihrem Mann zum Ambulanticum-Sommerfest fuhr, hatte sie so ein Gefühl. „Wir saßen im Auto und ich habe zu ihm gesagt: Du gewinnst heute“, blickt die Wetteranerin zurück. Wenn sie die Geschichte erzählt, muss sie unwillkürlich lachen. Denn sie behielt recht. Bei der großen Tombola des Therapiezentrums zog Bernhard Hedwig das große Los: eine Intensivtherapie im Ambulanticum. Vier Wochen lang arbeitete der 70-Jährige mit dem Therapeutenteam daran, nach seinem Schlaganfall weiter auf die Beine zu kommen.

Reha voller Stress und Frust

Im Februar 2017 traf Bernd Hedwig der Schlag, der sein Leben von einer Sekunde auf die andere veränderte. Seine linke Seite kann der frühere Techniker, der in der Arbeitssteuerung für Ersatzteile der Getränkeindustrie tätig war, seitdem kaum noch bewegen. Sprechen war schwer, Schlucken noch schwieriger. Nach vier Wochen im Krankenhaus kam Bernhard Hedwig in eine Reha. „Da haben wir sehr schlechte Erfahrungen gemacht“, sagt Monika Hedwig. Alles sei unter Zeitdruck passiert, die Behandlungen fingen nie pünktlich an und das Personal war überlastet. „Es herrschte totaler Stress“, erinnert sich Bernhard Hedwig. „Und das kann man in einer solchen Situation am wenigsten gebrauchen.“

 

Therapie in Eigeninitiative

Seine eigentliche Reha begann erst, als das Ehepaar wieder zu Hause war und die Therapien selbst organisierte. In Eigeninitiative suchte und fand Monika Hedwig Ergotherapeuten, Logopäden und Krankengymnasten, die zur Behandlung in die Wohnung kommen. An den körperlichen Folgen wurde gearbeitet, aber die seelischen Wunden, die der Schlaganfall hinterlassen hat, saßen bei Bernhard Hedwig tief. Er war frustriert, verzweifelt, in sich gekehrt, verlor seinen Humor, sein Lachen. Er konnte und wollte seine Situation nicht mehr ertragen – und versuchte, sich das Leben zu nehmen. Der Suizidversuch scheiterte.

Mit dem Besuch einer Selbsthilfegruppe und der psychosomatischen Reha, die Bernhard Hedwig verschrieben bekam, begann sein Weg zurück zu mehr Lebensfreude. „Eine Therapeutin hat meinen Mann auf ein Pferd gesetzt“, erzählt Monika Hedwig. Der Mann, der bis dahin große Angst vor Pferden hatte, fand Gefallen an der Reittherapie – und geht noch heute regelmäßig zum Stall.

Sehen, was man schon kann

Eine weitere Wende kam mit einem Aufenthalt im Ambulanticum: 2020 trainierte Bernhard Hedwig zum ersten Mal in dem Herdecker Therapiezentrum. Dort arbeitete er an seinem Gleichgewicht, lernte, seine linke Seite zu erkennen und lief auf Lokomat und C-Mill. „Zu Beginn bin ich sehr tapsig gelaufen, jetzt kann ich lange Schritte machen“, sagt der Schlaganfall-Patient, der in seiner Zeit in Herdecke merkte, was alles noch möglich ist. „Vorher hat mein Mann immer nur gesehen, was er nicht mehr kann. Und er hat nicht gewürdigt, was er schon kann“, sagt Monika Hedwig, die von der Arbeit des Ambulanticum überzeugt und sicher ist: „Hätte er von Anfang an diese Behandlung bekommen, könnte er jetzt normal laufen.“

Mehr Lebensfreude

Normal laufen. Das ist ein Ziel von Bernhard Hedwig. An diesem Ziel hat er auch in seinem zweiten – bei der Tombola gewonnenen – Aufenthalt im Ambulanticum gearbeitet. Mittlerweile kann er gut mit einem Gehstock stehen und gehen. Und auch die Freude am Leben ist zurück – Humor inklusive. „Mein Mann kann wieder lachen. Und scherzen. Er hat einen eigenartigen Humor. Aber der ist Gott sei Dank wieder da“, sagt Monika Hedwig und lächelt. Gemeinsam kann das Paar sein Leben wieder genießen. Die Wetteraner gehen ins Theater, zum Frühstückskino, besuchen Restaurants und verreisen.

Tolles Team

„Nach der ersten Phase im Ambulanticum fing unser Leben wieder richtig an. Natürlich ist es anders, es ist manchmal umständlich, es dauert alles länger – aber es ist machbar“, sagt Monika Hedwig, die es wichtig findet, dass im Ambulanticum auch auf die Psyche der Patienten eingegangen wird. „Das Team versteht es, die Betroffenen zu motivieren“, ist das Paar sich einig. „Die Therapeutinnen und Therapeuten sind freundlich, fürsorglich und ,echt´. Man ist im Ambulanticum einfach gut aufgehoben.“

„Aufgeben war keine Option.“

Endlich wieder laufen: Anouk Kapfer trainiert im Ambulanticum für ihr Ziel

Erst eine Berufsbildung in der Krankenpflege, anschließend ein Medizinstudium – mit Anfang 20 hatte Anouk Kapfer klare Vorstellungen von ihrem Leben. Doch dann kam alles anders: Nach einer Hepatitis-Impfung entwickelte sie Antikörper gegen die eigenen Nerven. Die Folge: CIDP, eine chronische Erkrankung des peripheren Nervensystems, die zu schweren Entzündungen im ganzen Körper führte. Zusätzlich entzündete sich durch eine Myelitis das Rückenmark und führte zu einer inkompletten Querschnittlähmung unterhalb des 10. Brustwirbels. Seitdem ist Anouk Kapfer gelähmt, sitzt aufgrund eines inkompletten Querschnitts seit acht Jahren im Rollstuhl. Im Rollstuhl hat die Gießenerin auch ihre Therapie im Ambulanticum begonnen – mit einem konkreten Ziel: Das Herdecker Therapiezentrum gehend zu verlassen.

Achterbahnfahrt zwischen Therapie und Bürokratie

„Ich möchte es anders machen als zu Beginn meiner Erkrankung. Damals bin ich mit Unterarmgehstützen ins Krankenhaus gegangen – und im Rollstuhl wieder herausgekommen“, blickt die zierliche Frau mit dem blonden Pagenkopf auf die Zeit zurück, in der ihr Leben eine schicksalhafte Wendung nahm. Eine Woche nach der Impfung fühlte sie sich schlecht. Sie begann zu zittern, konnte den Stift während einer Klausur nicht mehr halten, hatte Einschränkungen im Sichtfeld, schaffte es nicht mehr, ihr linkes Bein aufzusetzen. Sie ging ins Krankenhaus – und eine Achterbahnfahrt zwischen Therapie und Bürokratie, gesundheitlichen Rückschlägen und Neuanfängen begann.

„Ich war ein absoluter Sonderfall“, sagt Anouk Kapfer heute. CIDP und Myelitis: Welche Erkrankung zu welchen Einschränkungen und Beschwerden geführt hat, war ebenso wenig klar, wie die Prognose. Sie hörte alles: „Den Rollstuhl brauchen Sie vielleicht gar nicht“ genauso wie „Am besten finden Sie sich damit ab, dass Sie im Rollstuhl sitzen.“ Auch welche Therapie- oder Rehaeinrichtung ihr helfen kann und darf, wird auf langen bürokratischen (Irr-)Wegen im Gesundheitssystem geklärt: Ihre erste Reha bekam die heute 30-Jährige erst ein Jahr nach der Impfreaktion. „So lange hat es gedauert, bis sich die Krankenkassen und Versicherungen darüber geeinigt haben, wer zahlt und für was.“

Jahrelange Ungewissheit

Bis zu dem Zeitpunkt hatte die junge Frau keine Therapie und sich das Wichtigste selbst beigebracht – von der Rollstuhlmobilität bis hin zum Kathetern. „Es gibt da wirklich hilfreiche Youtube-Videos“, sagt sie ganz trocken. Aber allein gelassen und nicht ernst genommen hat sie sich lange gefühlt. „Rückblickend ärgert mich das. Ich habe einfach nicht gewusst, was möglich ist und hätte wahrscheinlich nicht so lang im Rollstuhl gesessen, wenn die Therapien eher begonnen hätten.“ Die erste Zeit ging es ihr schlechter und schlechter. Immer wieder kamen Schübe, immer wieder bekam Anouk Kapfer Kortison: „Ich wusste jahrelang nicht, wie es weitergeht. Und es konnte mir auch keiner sagen.“ Was sie aber wusste war: Sie will wieder laufen.

Als Anouk Kapfer ihren Neurologen wechselt, kommt sie dem Ziel ein erstes Stück näher. Sie entscheidet sich mit ihrem Arzt für eine Kortisonstoßtherapie, die Wirkung zeigt. Als ihr Mann sie von der Therapie abholt, sich auf ihrem Oberschenkel abstützt, um ihr einen Kuss zu geben, spürt sie die Berührung. „Das hat mir Auftrieb gegeben, mich motiviert“, sagt die Mutter eines heute einjährigen Kindes. Sie legte den Fokus, der sonst klar auf ihrem Psychologiestudium war, verstärkt aufs Training. Es geht ihr weiter besser, auch während und nach der Schwangerschaft nimmt die Motorik zu.

Endlich ernstgenommen

Im August 2022 kommt Anouk Kapfer zum ersten Mal zur Intensivtherapie ins Ambulanticum. Und zum ersten Mal fühlt sie sich ernst genommen: „Niemand hat gesagt: Finden Sie sich mit dem Rollstuhl ab“, erzählt die Psychologin. Im Gegenteil: Als Anouk Kapfer sagt, was sie mit der Therapie erreichen möchte, belächelt sie keiner. Drei Kilometer mit ihrem Kind am Strand entlanglaufen – auf einmal scheint das möglich. „Es hat mich irritiert und motiviert, dass mir keiner mein Ziel ausreden wollte“, lacht Anouk Kapfer, die im Januar 2023 zum dritten Mal in der Herdecker Einrichtung ist.

Sie trainiert hart. Arbeitet mit dem Ambulanticum-Team an ihrer Rumpfstabilität, übt, Bewegungen anzubahnen, bekommt Physio- und Ergotherapie, Sport- und Bewegungstherapie, absolviert Einheiten auf Lokomat und C-Mill. Sie lernt Fahrradfahren, trainiert Torwürfe mit einem Handball – und geht auf Sand. Mit Orthesen und auf dem Spielplatz statt am Strand, aber ihr Ziel ist zum Greifen nah.

Aufgeben war keine Option

„Es ist Wahnsinn“, sagt Anouk Kapfer glücklich. „Ich habe immer daran geglaubt, dass ich das Ambulanticum laufend verlasse. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich mein Therapieziel so schnell erreiche.“ Möglich gemacht hat das auch die enorme Unterstützung der Therapeut*innen vor Ort, da ist sie sich sicher. „Die war einfach großartig.“ Und auch, wenn der Weg schwierig und die Therapie manchmal so hart war, dass sie dachte sie kann nicht mehr: „Ich wusste, das Ambulanticum ist eine einmalige Chance“, so Anouk Kapfer. „Aufgeben war keine Option.“

Motivationspreis: Bemerkenswerter Mut zur Ehrlichkeit

Dr. Brigitte Mohn, Mitglied des Vorstandes der Deutschen Schlaganfall-Hilfe, hält Laudatio auf Dr. Bernhard Krahl

Vorbild und Unterstützung sein für andere Betroffene: Als Dr.Bernhard Krahl erstmals die Idee zu einem ambulanten Therapiezentrum für Menschen mit neurologisch erworbenen Erkrankungen hatte, war das seine große Motivation. Schließlich musste sich auch der Gründer des Herdecker Ambulanticum nach zwei Schlaganfällen zurück ins Leben kämpfen. Ein Weg, der schwer und lang war. Trotzdem gab Dr. Bernhard Krahl sich und sein Ziel nicht auf. Dafür wurde der 75-Jährige 2022 mit dem Motivationspreis der Deutschen Schlaganfall-Hilfe ausgezeichnet (Link zur Meldung). Vorstandsmitglied Dr. Brigitte Mohn übergab den Preis und hielt im Haus der Stiftung eine berührende Laudatio.

„Ich finde es ganz bemerkenswert, dass er anderen Menschen in seinem Therapiezentrum die Chance gibt, wieder ins Leben zurückzukommen“, so die Unternehmerin in ihrer Rede.  Es sei schön, dass es Menschen gebe, die aus der eigenen Tiefe heraus, anderen Mut machten.

Auch für die Autobiographie „Schlagseite“ des Ambulanticum-Geschäftsführers fand Dr. Brigitte Mohn lobende Worte: „Sie haben in Ihrem Buch so schön beschrieben, dass das Gesundheitssystem – und wir haben es an anderer Stelle schon gehört – den Patienten gar nicht immer hilft, sondern dagegen arbeitet.“ Und weiter: „Es ist bemerkenswert, dass Sie den Mut haben, so ehrlich zu sein.“

Mit seiner „ironischen, Mut machenden Art und Weise“ sage der frühere Zahnarzt anderen Betroffenen „Gib nicht auf!“ – selbst wenn es medizinisch scheinbar keinen Weg mehr gebe. Dr. Brigitte Mohn betonte, wie beeindruckend es sei, dass sich der Ambulanticum-Geschäftsführer „als Unternehmer, als Patient und als Beteiligter im Gesundheitssystem“ einsetzt und deutlich sagt: „Austherapiert?! Nehmt das nicht als gegeben an!“

Neben Dr. Bernhard Krahl zeichnete die Deutsche Schlaganfall-Hilfe neun weitere engagierte Menschen mit dem Motivationspreis aus. Eine Jury, zu der auch die ehemalige Frontfrau des ARD-Sportstudios Monica Lierhaus zählte, hatte die Preisträgerinnen und Preisträger aus 82 Nominierungen ausgewählt.

Weitere Infos zur Preisverleihung gibt es hier. Das Buch „Schlagseite“ von Dr. Bernhard Krahl kann hier bestellt werden.

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